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Stattdessen leuchteten nacheinander einzelne Bereiche auf, so wie Lämpchen in einem Flipper: der rosafarbene Schalenkoffer, der neben meinem rechten Fuß stand; die Jagdhunde, die den Aktaieon zerfleischten; das geschwungene grüne Schutzblech über dem Vorderrad des Mercedes, der draußen vor der Garage stand; Bels Beine, die, weiß wie Kerzen unter dem wehenden schwarzen Kleid, auf mich zugingen und direkt vor mir stehen blieben.

Aber das weißt du ja alles«, sagte sie. »Ich weiß, dass du es weißt. Vielleicht nicht alle Einzelheiten. Aber genug. Deshalb wolltest du ja auch unbedingt weg von hier; erst der schwachsinnige Plan mit Chile, und dann, als das nicht klappt, da haust du wegen einer kleinen Kabbelei mit Mutter einfach so ab? Nur weil sie wollte, dass du dir einen Job suchst, verlässt du deinen Stammsitz und ziehst bei Frank ein?«

S
ie setzte sich neben mich auf die Chaiselongue. »Verstehst du das denn nicht?Ich bin sauer auf dich, weil du den Ahnungslosen spielst, weil du so tust, als sei alles auf der Welt nur eine Abschweifung von dem grandiosen, erlauchten Leben, das Vater für uns beide entworfen hatte, und weil du so tust, als würde man Vater verraten, wenn man irgendwas anderes macht oder sich auf irgendwas anderes einlässt. Aber es gibt keinen Entwurf, Charles. Da sind keine Werte. Amaurot war immer nur ein Ort, wo er seine Hirngespinste ausleben, mit dem Kopf in den Wolken herumspazieren und so tun konnte, als ob die Welt da draußen gar nicht existierte. Ich bin nicht sein Richter. Aber nichts von all dem hat irgendeine Bedeutung, außer das Geld vielleicht.«
Meine Fingerspitzen waren schweißnass, dauernd drohte mir das Glas aus der Hand zu rutschen. Das Heulen des Sturms im Kamin hörte sich an wie das Pfeifen eines durchgeknallten Dudelsacks. Ich fühlte mich, als hätten wir das Ende der Welt erreicht, als gebe es nur noch den Salon, die Chaiselongue und uns beide. Ich nahm all meine Kraft zusammen und stemmte mich - wie ein alter Dinosaurier, der mühsam aus einem Sumpf klettert - auf der Chaiselongue nach vorn, stützte die Unterarme auf die Oberschenkel, räusperte mir den Staub aus der Kehle und nuschelte: »Bockmist.«

I
ch hätte weitermachen können. Ich hätte ihr erzählen können, dass ich noch nie in meinem Leben derart abscheulichen Müll gehört hatte. Ich hätte mir jeden ihrer Punkte vornehmen und einen nach dem anderen widerlegen können. Aber ich merkte, dass die Anstrengung des Aufsetzens mich ausgelaugt hatte. Also stellte ich mein Glas auf den Schalenkoffer, blieb einfach sitzen, starrte griesgrämig auf den Boden und ignorierte den Blick, den ich auf meiner Wange spürte.
»Sie haben Anklage gegen Geoffrey erhoben«, sagte Bel. Ihre Stimme klang jetzt wieder analytisch distanziert. »Du hast sicher davon gehört. Bei den Ermittlungen der Regierung in dieser Off-shore-Geschichte ist eine von Vaters Firmen aufgetaucht. Bis jetzt haben sie die Spur noch nicht bis zu uns zurückverfolgt. Kann aber nicht mehr lange dauern. Wenn die sich die Bücher erst mal genauer anschauen, ist das nur logisch. Briefkastenfirmen, Beteiligungsgesellschaften, Scheinkonten, das führt mal da hin, mal dort hin, mal nirgendwohin. Spenden an mysteriöse Wohltätigkeitsorganisationen, Treuhandfonds - du musst dich doch gefragt haben, Charles, was aus deinem Fonds geworden ist. Nicht mal du kannst so viel versoffen haben.«

I
ch sagte nichts. Schließlich stand sie seufzend auf, ging wieder zum Fenster und stellte sich an die gleiche Stelle neben den Vorhang, wo sie gestanden hatte, als ich in den Salon gekommen war.
»Aber für das Haus spielt das sowieso keine Rolle«, sagte sie. »Das macht auch so seinen Weg; es wird stärker und stärker werden. Mit den Synergieeffekten und den Statuen, die sie aufstellen, läuft das. Wie soll man so ein Monster schon aufhalten können?« Sie schaute mich über die Schulter an. »Jetzt kannst du Mutter wecken, wenn du willst. Sag ihr, ich binwieder verrückt geworden.«

I
ch sagte immer noch nichts, mir ging gerade etwas anderes durch den Kopf. »Aber eins musst du mir versprechen, Charles. Während ich weg bin, darfst du nicht hierher zurückkommen, versprich mir das. Auch wenn Mutter dir ein Zimmer anbietet. Die Sache mit den angemalten Gesichtern hat sie sich ausgemalt, verstehst du?« Sie runzelte die Stirn und kam auf mich zu. Ich unterdrückte ein Kichern. Ihr war noch gar nicht aufgefallen, dass neben ihr eine zweite Bel ging. Das Zimmer fing an, sich langsam zu drehen, und zwar auf gemütlich schaukelnde Weise. »Und du musst aufhören, dich in wunderschöne Mädchen zu verlieben, von denen du überhaupt nichts weißt.« Eine ganze Revuegirltruppe aus Bels hob simultan die Hände und schnippte sich die Ponyfransen aus den Augen. »Eins darfst du nie vergessen, Charles, jeder Mensch ist zuallererst ein menschliches Wesen, egal ob schön oder nicht, ob arm oder reich, ob Schauspielerinnen aus den Vierzigern oder Frank É Sie sind alle menschliche Wesen, das sind sie als Allererstes, verstehst du. He, Charles, verstehst du das?«
Ich nahm die schimmernde Kaleidoskop-Bel, die sich erwartungsvoll vor meinen Füßen aufbaute, nur verschwommen wahr. Ich dachte an die Zeit, als sie mit sieben einen Dokumentarfilm über den Hunger in Äthiopien gesehen und daraufhin beschlossen hatte, einen Kuchen zu backen und nach Afrika zu schicken. »Weißt du noch, Bel? Keiner war zu Hause, und dann ging die Küche in Flammen auf, und Vater hat hinterher gesagt É« Ich brüllte inzwischen vor Lachen. »Er sagt also, da war die Feuerwehr schon wieder weg, dass er gute Lust hat, diese verdammten Äthiopier zu fragen, ob sie nicht uns was zu essen schicken wollten, weil wir uns ja jetzt das Essen sowieso einen Monat lang ins Haus bringen lassen müssten É«
Das Schimmern hielt kurz inne und sagte dann, dass sie sich erinnere. Die Uhr schlug irgendwas, und sie sagte, sie hätte jetzt wirklich noch ein paar Sachen zu erledigen.
»Ja«, sagte ich, erhob mich schwankend und sank wieder zurück. »Könntest du mir vielleicht É ja, deine Hand, bitte É«

S
ie packte mich am Handgelenk und zog mich hoch. Als ich auf den Füßen stand, legte sie sich meinen rechten Arm über die Schulter und umfasste dann mit beiden Armen fest meine Taille. Auf diese Weise durchquerten wir die Halle. Ihr schmächtiger Körper stützte meinen ab, balancierte mal nach vorn, mal nach hinten und fungierte so als Gegengewicht zu meinem wankelmütigen Schwerpunkt. Als wir die Treppe in Angriff nahmen, bildete ich mir ein, ich hörte irgendwen Holz hacken. Da Bel schon unter meinem Gewicht schnaufte, ließ ich es unerwähnt. Wahrscheinlich irgendein vergessenes Gespenst, dachte ich, oder irgendein Golem, der mit seinen traurigen, schlaflosen Lehmfüßen durchs dunkle Gemäuer schlurfte.
Woran ich mich als Nächstes erinnere, ist, dass wir vor Vaters Arbeitszimmer standen. »Also dann«, sagte ich in die Richtung, wo ich Bel vermutete.
»Ja«, sagte sie.
»Grüß mir den alten Tschechow.«
»Sicher.«

B
ei mir tat sich plötzlich eine peinliche Lücke auf: Ich wusste, da war etwas angesprochen, aber nicht aufgelöst worden É Oder war es etwas gewesen, das unausgesprochen geblieben war, aber besser ausgesprochen worden wäre? Ich konnte mich nicht erinnern, also wagte ich einen Schuss ins Blaue: »Wegen der Sache, über die wir eben geredet haben, also, ob wir vielleicht zusammenziehen und so, da reden wir dann drüber, wenn du wieder da bist, dann machen wir das fix, okay?«
»Sicher«, sagte Bel wieder. Sie war jetzt nur noch ein verwischter Klecks, ein Daumenabdruck auf der Fotografie des Abends. Sie gab mir einen Kuss auf die Wange. »Auf Wiedersehen, Charles.«
»Wiedersehen«, sagte ich. Aber da war sie schon verschwunden.
Ich stolperte ins Arbeitszimmer, nahm Frank meinen Anteil Decken wieder weg und fiel umgehend in einen traumlosen Schlaf. Währenddessen ging Bel die Treppe hinunter, hinaus zur Garage, stieg in Vaters Mercedes und raste mit Vollgas in die Gartenmauer.
»Warum sollten die Menschen an ein einziges Gesicht gefesselt sein?«, sagte Vater gern. »Oder an ein einziges Leben?«

D
ie Maske, die man trägt, steht für dein anderes Ich, sagte Vater. Und weil sie nur fast echt ist, kann sie Schmerzen aushalten, die man selbst nicht aushalten kann. Weil sie nur fast menschlich ist, kann ihre Schönheit weder durch Alter noch Befindlichkeit geschmälert werden. Vaters Hände rochen nie nach der gleichen Substanz; die Düfte hingen wie süße Eindringlinge im Haus, wie Ketten aus opulenten Erinnerungen, die man niemandem mehr zuordnen konnte.
Wir begegneten seinen Models, wenn sie mit ihren ungeschminkten, hübschen Alltagsgesichtern die Treppe hinauf- oder hinuntergingen. Es war immer ein Schock, wenn wir sie ein paar Monate später in den Zeitschriften wiedersahen, wenn wir sahen, was Vater aus ihnen gemacht hatte. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 10.07.2006