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Erst mit dem Ende des Kommunismus kam es zur Erhebung der Kapitalrendite zum einzigen Maßstab.

Leitartikel
Ruf nach Gerechtigkeit

Sozialkritik mit heiligem Zorn


Von Reinhard Brockmann
Ob beim Katholikentag oder beim Deutschen Gewerkschaftsbund: Egal wo zahlreiche Bundespolitiker angeführt von Kanzlerin und Stellvertreter dieser Tage auftraten, sie alle bekamen die gleichen unangenehmen Fragen gestellt: nach der Gerechtigkeit, nach dem Zulassen von massenhafter Arbeitslosigkeit und nach den konkreten Antworten an die, die de facto immer ärmer werden.
Das übliche superschnelle Auf- und Abtauchen im hit and run-Stil zum kurzen Statement mit noch oberflächlicheren Antworten an lästige Nachfrager könnte nicht mehr lange gut gehen. Das mantrahafte Mindestlohn-Verlangen des DGB-Chefs mag man als Pflichtübung abtun. Aber die geballte Kritik beim Katholikentag hat eine neue Qualität. Nebenbei: Die evangelische Kirche steht ihren Mitbrüdern an kritischer Haltung in nichts nach - und schon gar nicht gilt das für Millionen Fachfrauen und Fachmänner aus Caritas und Diakonie.
Arbeitslosigkeit mache ihn wütend, bekennt Bischof Reinhard Marx mit kaum verhohlenem heiligen Zorn. Gewaltsam schlage der Staat den Kirchen die Gelder aus der Hand, beklagt nicht minder deutlich Weihbischof Manfred Grothe. Dem Paderborner hängt kaum der Ruf eines Sozialrevolutionärs nach. Grothe meint nicht nur die radikale Streichung von Fördermitteln. Sorgen bereitet ihm die Mehrwertsteuererhöhung, die für die Kirchen alles teurer macht aber allenfalls bei den Personalkosten leicht kompensiert wird.
Auch Zentralkomitee-Präsident Hans Joachim Meyer reiht sich ein in die Phalanx der knallharten Sozialkritiker. Sein furchtloser Umgang mit den SED-Oberen, erst als Mitglied der Ost-CDU dann als Dissident, gibt ihm Gewissheit, dass die Herausforderung der »da oben« lohnt.
Insbesondere unter den Verfechtern der katholischen Soziallehre gilt als ausgemacht, dass die Zeit hemmungslosen Kapitalismus' global, aber auch national längst angebrochen ist. Der Kommunismus habe das Gesellschaftsmodell im Westen zu sozialer Vernunft verpflichtet, heißt es bei Marx und anderen. Erst mit dem Ausfall dieses Korrektivs kam es zur Erhebung der Kapitalrendite zum einzigen Maßstab. Es fehle der Blick auf den Menschen, kurz die christliche Perspektive.
Wir wollen die Wirkungskraft eines Laientreffens der 40 000 nicht überhöhen, aber Kirchentage gibt es seit 1848. Von den 96 Katholikentagen gingen stets Impulse aus. Während des Kulturkampfes formierte sich hier Widerstand gegen den Liberalismus und Bismarck im Besonderen. Die katholisch-soziale Bewegung beeinflusste auch Wiederaufbau, Vertriebenenintegration und Friedenspolitik.
In der Wahlnacht musste Angela Merkel erkennen, dass ungezügelte Marktkräfte, Neo-Liberalismus und Flat-Tax nicht einmal zur einfachen Mehrheit reichen. Saarbrücken hat klargemacht, dass die soziale Verantwortung mit Kolping, KAB, CDA und mutigen Bischöfen ihre Fürsprecher nicht verloren hat.

Artikel vom 29.05.2006