07.07.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 



Ich war hundertprozentig davon überzeugt, dass das eine Marktlücke ist, dass man mit Bela-Lugosi-Make-up ein Vermögen machen könnte. Was ist?«
Bel hatte den Fächer heruntergenommen und schaute mich ärgerlich an. »Das waren nicht immer glückliche Zeiten«, sagte sie. »Es gab auch Sachen, die vergisst man besser.«
»Was meinst du?«
Sie verdrehte die Augen. »Ach nichts«, sagte sie. »Es ist spät. Geh schlafen.« Sie tat so, als bemerkte sie nicht, dass ich sie anstarrte, und streckte die Hand aus. »Die Marke.«
Ich schloss die Finger um die Marke und ließ langsam den Arm sinken.
»Sei nicht kindisch, Charles, gib sie schon her.«
»Sag mir erst, was du gemeinst hast.«
»Nichts, ich hab nichts gemeint.« Ihr ärgerliches Gesicht hatte die Farbe von Roter Bete angenommen.
»Es war nicht nichts. Sonst hättest du es nicht gesagt. Außerdem, wofür brauchst du das alte Ding eigentlich? Da steht nicht mal ein Name drauf?«
»In Gottes Namen, dann behaltÕs eben!« Wütend drehte sie sich um. Sofort tat es mir Leid. Ich kam mir vor wie ein Trottel und wollte mich gerade entschuldigen und ihr die Marke geben, als sie wieder herumwirbelte und mich überrumpelte.

»Aua! Was soll das?«
»Lass los, Charles.« Sie bohrte mir die Fingernägel in die Hand und versuchte mir die Marke zu entreißen. Ich stieß sie zurück, und sie drückte mir ihren Ellbogen gegen die Brust, um einen besseren Hebel zu haben. So kämpften wir eine Minute lang herum, bis ich ihr den Arm verdrehte, um sie endlich abzuschütteln. Anscheinend hatte ich aber zu fest zugepackt, denn sie taumelte zurück und fiel rücklings auf den Boden.
»Oh, Scheiße.«
»Fass mich nicht an!«
»Das wollte ich nicht, ich bin nur É«
»Betrunken, und ob, du bist immer betrunken.« Sie wälzte sich unter meinem ausgestreckten Arm hindurch auf die Seite und lehnte sich mit dem Rücken an ein Bein der Chaiselongue.
»Es tut mir Leid«, sagte ich. »Es ist doch nicht gebrochen oder?« Sie antwortete nicht, sondern saß nur mit angezogenen Knien neben ihrem Koffer und massierte sich das Handgelenk.
»Das war keine Absicht«, sagte ich mit schlechtem Gewissen. »Ist nur so, dass ich einfach nicht verstehe, warum du alles schlecht machen musst.«
»O Gott! Lass mich einfach in Ruhe, okay?«
»Doch, das stimmt, Bel. Dir fällt das vielleicht gar nicht auf, aber É«
Sie hob den Kopf und schaute mich an. Die Schmerzen hatten ihr Tränen in die Augen getrieben. »Kannst du denn nie aufhören damit?«
»Aufhören womit?«
»Warum zwingst du mir immer und immer wieder die gleiche Diskussion auf?«
»Tu ich ja gar nicht.«
»Und ob du das tust, in deinen ewigen glücklichen Erinnerungen und Was-waren-wir-doch-für-gesegnete-Kinderlein-Geschichten sieht es so aus, als hätte ich die ganze Zeit ein total anderes Leben gelebt. Du hast nicht die geringste Ahnung, wie ich mich dabei fühle.«
»Wovon redest du eigentlich?«

V
on der Art, wie du über uns beide redest, davon, dass alle deine Geschichten Kindergeschichten sind, als ob nichts mehr passiert wäre, nachdem wir älter als zehn waren; und davon, dass du alles Schlechte übertünchst und einfach vergisst.«
»Ich übertünche gar nichts.«
»Als ich im Krankenhaus war, warum redest du nie darüber? Ist das etwa nicht passiert? Du hast doch selbst den Krankenwagen gerufen, oder nicht? Oder habe ich mir das nur eingebildet?« Die Glutasche des Kaminfeuers gab ihrem Gesicht einen tiefroten, blassen Glanz. Hektisch massierte sie ihr Handgelenk und fuhr sich mit dem Ärmel über die Nase.
»Das war ein schmerzlicher Abschnitt im Leben von uns beiden«, sagte ich. »Nur weil ich über etwas nicht rede, heißt das nicht, dass ich es vergessen habe oder es übertünche É«
»O doch, das tust du!« Sie rappelte sich umständlich auf. Es hatte etwas Märtyrerhaftes, wie sie dabei mit der gesunden Hand die verletzte hielt. »Sogar heute Abend, zu meinem Abschied, bringst du einen streunenden Hund mit, den du irgendwo halb tot aufgelesen hast, weil du verhindern willst, dass ich mich an den ersten erinnere, weil du glaubst, du kannst die Erinnerung einfach so auslöschen. Dabei gehtÕs doch gerade darum, den ersten eben nicht zu vergessen, sich immer an ihn zu erinnern und auch daran, wie niederträchtig Mutter sich verhalten hat, als sie das kleine Ding É«
»Es war nur ein Abschiedsgeschenk«, protestierte ich. »Es sollte nicht irgendeine existenzielle É«
»Das war es aber, Charles, das ist es immer. Und dann gehst du auf mich los mit deinem ÝWeißt du noch dies, weißt du noch dasÜ, und alles, wovon du nichts mehr wissen willst, fällt einfach unter den Tisch, oder du biegst es dir so zurecht, dass es genau in die Traumwelt passt, in der du lebst. Genau wie alle anderen mit ihren Statuen, ihren Traditionen und ihrem Gerede von Vaters Vermächtnis, das Bestand haben muss. Aber bei dir ist es schlimmer, weil du dabei warst, weil du weißt, dass es nicht stimmt.«
Es war spät, und ich hätte wissen müssen, dass es besser gewesen wäre, sie in Ruhe zu lassen. In sehr kurzer Zeit hatte sie es geschafft, sich ziemlich in Rage zu reden. Doch zu diesem Zeitpunkt war ich selbst schon etwas mitgenommen, und plötzlich hatte ich einfach genug von ihren Tiraden. Also sagte ich ihr auf ziemlich schroffe Weise, dass ich nicht die geringste Ahnung habe, worüber sie überhaupt rede.

V
erzweifelt presste sie eine Hand gegen ihre Wange. »Über alles hier, Charles. Über das ganze Haus. Über die Lügen, die Heuchelei, die Masken, mit denen jeder rumläuft. Jeder tut, was er kann, damit er ja nichts mit der Realität zu tun bekommt. Und bezahlt haben das alles die alten Damen, denen man vorgaukelt, sie bekämen ihre Jugend zurück. Das ist alles Fiktion, absolut alles. Das war es schon immer, darauf ist unser Haus gebaut.« Wie eine vor Schmerz herumflatternde Motte ging sie mit langen Schritten zum Kamin und wieder zurück. »Und jetzt fängt alles wieder vorn an, mit Harry und Mirela und dieser Telefongesellschaft, die uns benutzt, damit sie irgendetwas vorstellt, das nicht nur wie ein Haufen skandinavisches Risikokapital aussieht. Und dann Mutter, wie sie sich anstrengt, dass es so aussieht, als kümmere sie sich; Lügen und Heuchelei - das nämlich ist wirklich Vaters Vermächtnis, Charles, das und hundert Bankkonten, von denen wir nicht mal wissen, wo die alle sind. Und wenn du wüsstest, was da oben alles abgelaufen ist, würdest du es trotzdem nicht zugeben. Herrgott, du weißt doch, wie er gestorben ist, und jetzt fragst du mich ernsthaft, warum ich nach Jalta gehe É Bei dem Gedanken, dass ich auch nur eine Sekunde länger hier bleiben müsste É«
Im Fenster zuckten Blitze und verwandelten den Raum für einen Moment in einen Holzschnitt. »Bist du fertig?«, sagte ich ruhig.
»Ja, ich É Was ist, wohin gehst du?«
»Ich wecke Mutter«, sagte ich.
»Was?« Sie lief zur Tür und versperrte mir den Weg. »Was?«
»Ich hole Mutter, und dann rufe ich den Arzt an«, sagte ich und schob sie beiseite. »Du bist hysterisch.«
»Ich bin nicht hysterisch«, sagte Bel schockiert. »Wie kommst du darauf, dass ich É?«
»Du bist hysterisch, und ich rufe jetzt den Arzt. Du bist nicht in der Verfassung, um irgendwohin zu reisen.«
»Das ist nicht fair, Charles. Nur weil ich dir etwas erzähle, das dir nicht passt, bin ich noch nicht hysterisch.« Sie streckte die Hand aus, die ich nachsichtig übersah. »Nur weil da mal was gewesen ist, kannst du mich doch nicht É«
»Tut mir Leid«, sagte ich ungerührt. »Ich hab keine andere Wahl.«
»Aber das ist doch É halt, warte!« Sie stellte sich mir wieder in den Weg. »Warte, Charles! Charles, jetzt warte doch É« Sie senkte den Kopf, kniff sich in die Nase und holte tief Luft. »Es ist nicht nötig, Mutter aus dem Bett zu holen. Du hast Recht. Ich bin etwas überreizt. Der Tag hat mich wirklich geschafft. Es tut mir Leid. Gib mir eine Minute, dann habe ich mich wieder im Griff, okay? Warum É« Sie schaute sich um und sah die Flasche, die aus meiner Tasche lugte. »Warum setzen wir uns nicht einen Moment, trinken einen Schluck und kommen beide wieder zur Ruhe.«

S
ie zupfte bettelnd an meinen Hemdknöpfen. Ich schwankte. Ihr Blick war wirr, die Augen kamen mir viel zu weiß vor. Trotzdem, ein Drink wäre jetzt tatsächlich genau das Richtige.
Bel holte zwei Gläser, schenkte sich selbst und dann mir einen kräftigen Schluck ein. Wir setzten uns auf die Chaiselongue, nippten an unseren Drinks und schauten hinaus in den Sturm, so friedfertig und vornehm, als nähmen wir draußen auf dem Rasen unseren Tee. Plötzlich fing sie an, über diese Meisterklasse in Jalta zu plaudern, darüber, dass der Veranstaltungsort das Landhaus sei, in dem Tschechow gelebt habe, nachdem er wegen seines schlechten Gesundheitszustands Moskau habe verlassen müssen; dass er dort mit seiner Frau Olga, einer Schauspielerin, gelebt und dort auch sein letztes Stück, den Kirschgarten, geschrieben habe; dass er an seinem Geburtstag zur Premiere nach Moskau gefahren sei und einen Hustenanfall erlitten habe, als ihn das Publikum nach der Aufführung auf der Bühne habe sehen wollen; und dass er zwei Monate später im Alter von vierundvierzig Jahren friedlich gestorben sei. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 07.07.2006