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Der Richter und die Stechuhr

Aus Protest gegen Überlastung erfasst Helmut Knöner seine Arbeitszeit

Von Christian Althoff
Herford (WB). Am Schlüsselbund des Herforder Amtsrichters Helmut Knöner (58) hängt seit Anfang des Jahres ein kleiner Chip, mit dem er die Stechuhr im Gerichtsgebäude bedient. Knöner ist wahrscheinlich Deutschlands einziger Richter, der seine Arbeitszeit erfassen lässt: »Damit die Überlastung von uns Amtsrichtern endlich einmal dokumentiert wird!«
Im Namen des Volkes: Helmut Knöner arbeitet seit 29 Jahren als Amtsrichter.

Richter genießen ein Privileg. Sie können sich ihren Tag frei einteilen, dürfen zu Hause arbeiten oder in ihrem Büro - Hauptsache, sie erledigen die Fälle, die ihnen zugewiesen werden. »Früher reichten dafür 40 Stunden in der Woche. Davon können wir heute nur noch träumen«, sagt Knöner. »1980 waren wir in Herford 16 Richter, heute sind wir noch 13 - bei steigenden Fallzahlen und zunehmend schwierigeren Sachverhalten.«
Wenn der Amtsrichter morgens in sein Büro kommt, warten dort zwischen 30 und 50 neue Akten. »Manche Fälle, wie Bußgeldsachen, habe ich in wenigen Minuten vom Tisch, über anderen Akten sitze ich länger. Bis Abends muss ich alle bearbeitet haben, denn am nächsten Morgen wird mir ein neuer Stapel gebracht«, sagt Knöner. Dazu kämen Gerichtsverhandlungen, Anhörungstermine in der Justizvollzugsanstalt und Betreuungsfälle, die viel Zeit kosteten: »Die lassen sich oft nicht am Schreibtisch erledigen. Wenn etwa das Krankenhaus anruft, weil ein Betreuter operiert werden soll, muss ich dort hin fahren und mit dem Patienten sprechen, bevor ich die Erlaubnis zu der OP gebe.« 300 Betreute sind Knöner zugewiesen.
Lange habe er geglaubt, dass die Erschöpfung, die er spüre, etwas mit seinem Alter zu tun habe, sagt der 58-Jährige. »Aber es geht meinen jüngeren Kollegen ähnlich. Weil die Zahl der Fälle, die wir bearbeiten müssen, kontinuierlich zunimmt. Man wirft uns mit Arbeit zu.«
Hätten Anwälte früher ihren Mandanten geraten, einen Streit zu begraben, so werde heute um 20 Euro prozessiert. »Kein Rechtsanwalt kann sich mehr leisten, auf Kunden zu verzichten, und die Rechtsschutzversicherungen zahlen.« Und die vom Land übernommene Prozesskostenhilfe sorge dafür, das etwa in Sorgerechtsstreitigkeiten jede Auseinandersetzung der Eltern vor Gericht lande.
So stieg nach Berechnungen des nordrhein-westfälischen Amtsrichterverbandes die Zahl der jährlich bearbeiteten Fälle pro Richter allein in den vergangenen drei Jahren um 13 Prozent. Zivilrichter erledigten zuletzt durchschnittlich 890, Familienrichter 531 und Strafrichter 780 Fälle. »Wobei man die meisten Akten ja mehrfach auf den Tisch bekommt«, sagt Helmut Knöner.
Um der Landesjustizministerin seine Arbeitsbelastung nachweisen zu können und einen Geld- oder Freizeitausgleich einzuklagen, benutzt der Richter nun die für die übrigen Beamten und Angestellten installierte Stechuhr. »Zusätzlich zu der so erfassten Zeit notiere ich die Stunden, die ich zu Hause am Schreibtisch verbringe«, erklärt Knöner. Ausgehend von einer 40-Stunden-Woche habe er im ersten Quartal 23 Prozent Mehrarbeit geleistet. »Das geht seit Jahren so, und das bleibt nicht ohne Folgen«, sagt der Richter. »Unter Zeitdruck macht man Fehler. Man ist versucht, mehr Verfahren einzustellen und begründet Urteile vielleicht oberflächlicher«, kritisiert Knöner. »Der Leidtragende ist der Bürger, der von uns zu Recht hundertprozentige Arbeit verlangt.«
Die Verbitterung des Herforder Richters - sie ist nach Angaben des Amtsrichterverbandes kein Einzelfall, und Besserung ist nicht in Sicht. Ralph Neubauer, Sprecher im Justizministerium: »Die hohe Belastung gerade der Amtsrichter ist uns bekannt. Aber für weitere Stellen ist kein Geld da. Wir müssen nach Wegen suchen, die Arbeit innerhalb der Justiz gleichmäßiger zu verteilen.« Denn es gibt Unterschiede bei Arbeitsbelastung: Sie beträgt nach einer Erhebung des Deutschen Richterbundes in NRW bei der Generalstaatsanwaltschaft 103 Prozent, bei Oberlandesgerichten 104 Prozent, bei Landgerichten 114 Prozent und bei Amtsgerichten 122 Prozent. Nur Staatsanwälte in NRW arbeiten noch mehr: Hier kam die Untersuchung auf einen Wert von 134 Prozent.

Artikel vom 20.05.2006