13.06.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 



Das Haus ragte bedrohlich aus der Dämmerung auf, und eisige Blitze des Grauens durchbohrten mich. Aber eins musste ich ihr lassen: Am Anfang dieser ganzen Ausreißergeschichte hatte sie einen guten Kumpel abgegeben; bei solchen Sachen war Bel klasse, ja, das war sie wirklich, auch wenn sie ein Mädchen war. Wenn sie bloß nicht so grässlich heulen würde. Wir gingen also zur Hintertür und klopften an, damit uns das Hausmädchen, das wir damals gerade hatten, hereinließ und wir zu Vater in den Salon marschieren und unsere Strafen abholen konnten É
Nur, diesmal gab es natürlich keinen Pavillon, in den wir hätten fliehen können, und auch keine höhere Macht, die hätte vermitteln oder aburteilen können. Es gab nur die Fakten, und die lagen in Form eines schlaffen Handschuhs auf dem Tisch. Keiner von uns wusste, was das Protokoll für derartige Situationen vorsah. Also standen wir bloß da, etwas ermattet, als wäre zu wenig Sauerstoff im Zimmer. Es muss ziemlich komisch ausgesehen haben, wie wir beide mit den Händen in den Taschen ins Leere starrten und nach Worten suchten, um die Szene aufzulösen, zu erklären oder wenigstens wieder in Gang zu setzen, um endlich diesen schrecklichen Sekunden ein Ende zu bereiten. Dann stand Bel auf und verließ die Wohnung. Als ich ihr folgen wollte, blieb ich mit einem Fuß in dem unbespannten Tennisschläger hängen, und als ich ihn wieder befreit hatte und unten auf der Straße stand, war nichts mehr von ihr zu sehen. Und so stolperte ich wie ein Mann in einem Spiegelsaal oder in einer endlosen chinesischen Schachtel aus Träumen wieder nach oben in die Wohnung, stieß die Tür zu meinem Zimmer auf und fand es leer - leerer als das Kabinett eines Zauberkünstlers, leerer als irgendetwas auf der Welt sein sollte.


Vierzehn

Ich hab Bosnier unterm DachEine Tragödie in drei AktenVon Charles Hythloday
Ort der Handlung: Ein baufälligesChateau an den Ufern der Marne.
dramatis personae
graf frederick: Ein Graf, der junge Herr des Hauses. Kämpft mit der Vergangenheit und - in seinem Bestreben, den alten Glanz des väterlichen Weinguts wiederherzustellen - im Haifischbecken der französischen Weinindustrie.
babs: Seine Schwester, eine wunderschöne, wenn auch zum Moralisieren neigende Möchtegernschaupielerin.
lopachin: Ein im Chateau wohnender machiavellistischer Bankdirektor/Theaterimpresario, der heimlich die Zerstörung des Weinguts und den Bau einer über das Grundstück führenden Eisenbahnlinie plant sowie Babs und Frederick zu entzweien sucht.
[Anmerkung: Warum hat Frederick Lopachin überhaupt in sein Haus gelassen?]
mamÕselle: Ein französisches, auf ulkige Weise unbeholfenes Hausmädchen.
horst und werner: Zwei Bosnier.
inspektor dick robinson, scotland yard

erster akt - erste szene

(Der Salon. graf frederick blickt in Gedanken versunken aus dem Fenster, als im Zustand höchster Erregung babs hereinstürmt. Nach ihr tritt der heimtückische lopachin ein.)

babs (aufgewühlt): Frederick! Oh, Frederick! Die Bauern, sie rebellieren!
frederick: Ach ja? Die Arbeit scheint sie wohl nicht auszulasten.

(Pause für Lacher)

babs: Wie kannst du in Zeiten wie diesen nur Witze machen? Nächste Woche beginnt die Weinlese. Wie sollen wir ohne Bauern die Trauben ernten?
frederick (grimmig): Ich weiß. Gerade jetzt, wo das Weingut sich endlich wieder erholt hatte. (wendet sich nachdenklich ab) Ich verstehe das nicht. Diese Bauern sind doch sonst so fröhliche Burschen. Hat ganz den Anschein, als hätte irgendwer sie aufgewiegelt, als hätte irgendwer falsche Informationen über die neue Agrarpolitik der EU in Umlauf gebracht. Aber wer sollte so etwas tun?
lopachin: Warum geben Sie Ihr Vorhaben nicht auf, Frederick? Ich verstehe Sie einfach nicht. Sie sind doch ein intelligenter Mann. Warum wollen Sie unbedingt diese alte Klitsche wieder zum Leben erwecken? Wo Sie doch genau hier einen Bahnhof bauen könnten oder ein Multiplexkino?
frederick (kühl): Das ist etwas, Lopachin, von dem Sie nichts verstehen. Man nennt das Tradition. Mein Vater hat diese Weinfelder bestellt, und vor ihm sein Vater. Das hat mit Geld nichts zu tun. Es geht darum, eine halbwegs anständige Flasche Burgunder zu produzieren. Es geht darum, den hier seit Generationen ansässigen Bauern Arbeit zu geben, auch wenn diese, ich darf ganz ehrlich sein, diese Anstrengungen nicht wert sind. Wir werden das Chateau nie verkaufen! Sie müssen es uns schon mit Gewalt entreißen.
babs (traurig): Da fällt mir ein, heute Morgen hat der Direktor der Bank angerufen. Er will dringend mit dir sprechen. Und noch was, Frederick, in letzter Zeit kommen im Haus immer wieder Dinge abhanden. Und dann diese Geräusche, diese fremdartigen Geräusche! (sie weint)
frederick (nimmt sie fürsorglich in den Arm): Mach dir keine Sorgen, Babs. Niemand wird dir etwas zuleide tun. (hebt herausfordernd den Kopf) Fremdartige Geräusche hin oder her, niemand wird uns aus unserem Chateau vertreiben, nicht, wenn Scotland Yard noch zu irgendwas gut ist.
lopachin: Scotland Yard? (geht eilig ab)
frederick: Irgendwie ist mir der Bursche nicht geheuer. Manchmal frage ich mich, ob er wirklich der junge belgische Student ist, der mit dem Rucksack durch Europa trampt, wie er immer sagt. Erstens hat er gar keinen Rucksack, und zweitens ist er jetzt schon ein paar Monate hier. Bei dem Tempo braucht er noch vierzig Jahre, um sich Europa anzuschauen.
babs (lachend): Frederick, sei nicht albern. Er ist ein Schatz, ein richtiger Schatz. Er ist so schrecklich intelligent, und er weiß so viel über Theater. (fährt verschämt fort) Er will im Dorf den Hamlet auf die Bühne bringen. Er meint, ich wäre die perfekte Ophelia.
frederick: Babs, mein Liebling, du weißt doch, dass die Ärzte dir die Schauspielerei verboten haben. Deine schwache Gesundheit lässt das nicht zu. Außerdem glaube ich, dass er dich hinters Licht führt. Wer aus dem Dorf soll sich denn ein Theaterstück anschauen? Die verfluchten Bauern?
babs (gekränkt): Warum musst du immer alles, was ich tue, so herabwürdigen?
frederick (nimmt ihre Hand): Ach, Babs, meine Liebe. Ich versuche doch nur, dich zu beschützen. Du bist so naiv. Außerdem brauche ich dich hier im Chateau. Wie soll ich denn ohne dich zurechtkommen?
babs: Manchmal verabscheue ich das Chateau.
frederick (schlicht): Das Chateau ist unsere Bestimmung. (geht zum Kamin, über dem ein großes Porträt ihres Vaters hängt) Hamlet, he? »Sein oder nicht sein«. Das ist tatsächlich die Frage, wenn man es genau bedenkt.

(Von oben sind donnernde Geräusche zu hören. babs eilt in fredericks Arme.)

babs: Oh, Frederick! Ich habe solche Angst!
frederick (nimmt einen Degen von der Wand): Keine Angst, Babs, ich bin bei dir.

(Die Tür fliegt auf, und inspektor dick robinson von Scotland Yard kommt herein, im Schwitzkasten zu beiden Seiten horst und werner. Hinter ihnen schlurft lopachin herein; er schaut verärgert.)
inspektor dick robinson: Das Rätsel der seltsamen Geräusche und des verschwundenen Schneebesens ist gelöst. Da, Bosnier, sie hatten sich in der Dachkammer versteckt.
frederick: Allmächtiger!
inspektor: Kein ungewöhnlicher Fall, Sir. Zu faul und zu undiszipliniert, um ihren eigenen Laden da unten in Ordnung zu halten. Parasiten, kommen in anständige Länder und schlagen sich so durch. Oder, wie in Ihrem Fall, Sir, vertreiben ehrbare, rechtschaffene Aristokraten aus ihren Chateaus.
babs (bedeckt ihre Augen): Was für abscheuliche Menschen. Ich kann ihren Anblick nicht ertragen.
inspektor: Keine Sorge, MaÕam. Wo diese Schurken landen, da werden sie für lange, lange Zeit niemanden behelligen.
horst (verächtlich schnaubend): Leck mich, Bulle.
inspektor: Du unverschämter É (holt zum Schlag aus)
Frederick: Halt!

(Alle schauen überrascht zu Frederick)

frederick: Vielleicht haben Sie Recht, und sie sind faul und undiszipliniert. Aber auch die Gesellschaft trägt eine Schuld. Diese Männer verdienen eine zweite Chance. Ich gebe ihnen Arbeit auf meinem Weingut.
inspektor: Diese Männer sind gefährlich, Euer Exzellenz É
frederick: Möglich. Aber Vater hätte es so gewollt. Der Name dieses Guts verpflichtet. (wendet sich an die bosnier) Was sagt ihr, Jungs? Das ist harte Arbeit, Knochenarbeit, und ihr werdet nicht reich werden dabei. Was ist?Habt ihr Mumm?

(Die Bosnier befreien sich aus inspektor robinsons Klammergriff, durchqueren den Salon und fallen vor frederick auf die Knie.)

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 13.06.2006