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Und so bin ich hier gelandet, wo kein Mensch weiß oder sich drum kümmert, was da unten vor sich geht. Die Leute wissen nicht mal, welche Sprache das ist, die ich spreche. Und ich vergesse allmählich. Ich vergesse meinen Vater, der in unser Dorf zurück ist, weil seine Freunde ihren Hund im Keller zurückgelassen hatten. Ich vergesse, dass meine Mutter in Lastwagen hierher gekommen ist, versteckt zwischen Fleisch und Computerteilen. Ich vergesse, wie meine Brüder als kleine Kinder waren, damit mich der Anblick ihrer gelangweilten Gesichter nicht so schmerzt. Ich tue so, als ob ich nichts wüsste von den Nachrichten im Fernsehen, die beweisen, das sich ja doch nichts verändert. Jeder will, dass ich vergesse, also vergesse ich. Ich zwinge mich dazu, nur an mein neues Leben zu denken - an die Theaterstücke, die Jungen, die Möglichkeiten. Jeden Abend, wenn mir meine Mutter eine gute Nacht wünscht, fragt sie mich, wann wir wieder nach Hause gehen. Sie versteht nicht, dass das alles vorbei ist. Keiner der Menschen von früher lebt noch da. In unseren Häusern leben jetzt andere Menschen, Fremde. Jeden Abend sage ich ihr das, und am nächsten Abend kommt sie wieder in mein Zimmer, schaut in die Richtung, von der sie glaubt, dass da Osten ist, und fragt mich wieder. Sie versteht es nicht. Aber ich verstehe es. Und ich werde nie zurückgehen, egal, was ich dafür tun muss.«

E
s folgten lange Minuten gezwungener Stille. Ich schaute mit gerunzelter Stirn mein Glas an, das dringend nachgefüllt werden musste. Als Mirela einen Arm um ihre Taille schlang, bewegten sich ihre dunklen Haare sanft hin und her. »Ich erwarte nicht, dass du mir verzeihst«, sagte sie gefasst. »Ich will nur nicht, dass du mich für einen Dieb hältst, der in euer Haus einbricht und dir, ohne auch nur darüber nachzudenken, dein Leben stiehlt. Ich habe nicht gewollt, dass alles so kommt. Wenn es nach mir gegangen wäre, wären wir Freunde geworden, du mit deinem vermummten Gesicht und ich mit meinem Bein. Wenn man aus uns einen Menschen machen würde, dann käme vielleicht ein ganzer Mensch dabei raus.«

S
ie lachte. Das Geräusch platzte in die bußfertige Stimmung wie ein Pistolenschuss. Vielleicht fing ich deshalb auch an zu lachen - weil ich mich so erschrak. Die Spannung löste sich etwas, sie drehte sich um und machte einen Schritt von der Wand weg. Und da roch ich zum ersten Mal ihr Parfüm, was augenblicklich Bilder und Gerüche von zu Hause in mir wachrief: von Vaters Händen, und wie sie rochen, wenn er aus dem Labor nach Hause kam, von den Models, wenn sie, von Duftwolken umhüllt, die Treppe hinunterhüpften. Der Duft hing noch im Haus, wenn sie schon lange wieder weg waren, er spukte herum wie warme, süßlich riechende Gespenster: Sie schlichen sich im Flur klammheimlich an oder platzten mit einem Haa! aus der Ecke eines kaum genutzten Zimmers, zwinkerten einem kurz zu und waren genauso schnell wieder verschwunden.
»Entschuldige«, sagte Mirela. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich heute Abend noch mehr große Reden schwingen würde.«
»Ist schon in Ordnung.«
Sie stand jetzt wieder in der Mitte des Raumes. Mit versonnenem Lächeln griff sie nach oben zur Laterne und klopfte mit dem Fingernagel leicht gegen das Glas. Pling. »Im Gartenturm hatten wir auch so eine«, sagte sie.
»Ich weiß«, sagte ich. »Die war aus unserm Haus.«
»Kommt mir vor, als wär das schon ewig her«, sagte sie. Das Licht der nach dem Stupser leicht schaukelnden Laterne fiel in die Mulden ihres Schlüsselbeins und schwappte darin hin und her wie der letzte Schluck eines opalisierenden Getränks in einem Glas. »Weißt du É ich habe dir nie erzählt von É«
»Ja?«
»Ach nichts.« Sie senkte den Kopf, ging zum Tisch und setzte sich mit einem Oberschenkel auf die Tischkante. »Von einer Dummheit, die ich ziemlich oft gemacht habe.«
Ich ging zum Tisch und schenkte uns beiden nach. »Los, erzähl.« Ich war froh, dass wir uns nun auf weniger morbidem Terrain bewegten.
»Na ja É das war, als wir noch alle in euerm Turm waren, meine Brüder und ich. Die beiden sind jeden Tag in die Stadt, wegen der Aufenthaltsgenehmigung. Aber ich durfte nicht raus. Sie meinten, das wär zu gefährlich, wegen meinem Bein. Schnell bin ich damit ja wirklich nicht. Aber egal, ich hätte mich sowieso geschämt. Am Anfang in Irland, als ich all die Leute gesehen hab, die vor niemandem davonlaufen müssen, die ganz normal leben, da hab ich mich geschämt. Ich kam mir so lächerlich vor. Also bin ich Tag und Nacht da oben in meinem kleinen Zimmer geblieben. Aber dann fing ich an durchzudrehen. Ich musste raus. Mir war egal, ob mich jemand sehen würde. Wenn die Jungs abends eingeschlafen waren, hab ich mich nach draußen geschlichen. Ich bin nirgendwo Bestimmtes hingegangen, nur im Garten herum, die Luft genießen.« Abwesend zog sie die Handschuhe aus und legte sie feinsäuberlich über die Rückenlehne des Sessels. »Einmal hab ich Licht im Salon gesehen. Ich hab mich wahrscheinlich mehr als sonst gelangweilt oder hab mich einsamer gefühlt als sonst, auf jeden Fall bin ich zum Fenster gegangen und hab durch einen Spalt zwischen den Vorhängen geschaut. Und da hab ich dich gesehen.«
»Ach ja?«, sagte ich vorsichtig. Es hatte nämlich zu meinen Gewohnheiten gehört, vor dem Fernseher im Salon hin und wieder die hinderliche Hose abzulegen.
»Du hast dir einen alten Film angeschaut. Das konnte ich am Licht an der Wand sehen. Das hat mich daran erinnert, wie ich als kleines Mädchen noch spätabends alte Filme anschauen durfte. Mutter hat mich aufgelassen, weil ich ihr erzählt hatte, dass das gut für mein Englisch sei. Aber eigentlich hab ich sie deshalb so gern gesehen, weil alles so wunderschön aussah in Schwarzweiß.« Sie lächelte verschämt. »Ich bin immer richtig wütend geworden, wenn Dorothy nach Oz gekommen ist, weil da die Welt in Farbe war, und das mochte ich nicht. Ich wollte lieber, dass sie zurück nach Kansas geht.«
Ich sagte nichts dazu, aber im Innern klatschte mein Herz in die Hände und rief: »Jaa, ich auch, ich auch!«

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gal, ich steh also in dem Blumenbeet und schau dich an. An deinem Gesicht konnte ich genau ablesen, was gerade passierte. Wenn du böse geschaut hast, dann wusste ich, dass der Mörder gerade die Witwe tröstet, oder du hast die Hände vors Gesicht geschlagen, wenn die Pistole über den Boden geschlittert ist, oder gelächelt, wenn der Held das Mädchen küsst É« Sie lachte wieder und holte Luft. »So hatÕs zumindest für mich ausgesehen. Danach hab ich angefangen, im Programmheft alle Filme anzukreuzen, die du dir vielleicht anschaust, und abends hab ich mich dann aus dem Turm geschlichen und bin zum Fenster gegangen, immer nur ein paar Minuten. Ich hab mir vorgestellt, ich sitze neben dir, und ich bin zu Hause; Feuer im Kamin, ein Glas Rotwein.« Sie wiegte sich leicht vor und zurück und beugte sich etwas über den Tisch. »Sei ehrlich, Charles«, sagte sie leise. »Ist das zu viel verlangt?«
»Ganz und gar nicht«, sagte ich. »Ganz und gar nicht.«
Sie stand auf und ging um den Tisch herum auf meine Seite, strich sich mit einer Hand das Haar zurück und schaute mich ernst an. Es war, als erhöbe sich das Universum vor mir - wie ein Pferd an einem hohen Zaun. »Was müsste passieren, Charles, damit du mich küsst?«, fragte sie.

I
ch dachte darüber nach. Ich dachte über alles nach, was heute Abend und was vor heute Abend geschehen war. An und für sich sollte ich nicht mal in einem Raum mit ihr sein. Trotzdem - ich weiß, das ist unsinnig - hatte ich das Gefühl, dass das Mädchen, das in diesem Augenblick vor mir stand, mit all den grässlichen Ereignissen des heutigen Abends gar nichts zu tun hatte, dass eine andere, die echte Mirela, vor mir stand: das Mädchen, dem ich in jener Nacht im Turm zum ersten Mal begegnet war und das seither jede Nacht vor meinem geistigen Auge erschienen war.
»Du müsstest dein Glas abstellen«, sagte ich.
Mit einer einzigen geschmeidigen und gelassenen Bewegung stellte sie erst das Glas auf den Tisch und löschte dann das Licht der Laterne. Dann nahm sie meine Hand und geleitete mich in die Dunkelheit.

I
ch möchte Sie bitten, sich jetzt eine Abblendung vorzustellen oder eine dieser diskreten Sternchenreihen, die das Verstreichen von Zeit andeuten - nicht sehr viel Zeit, zugegebenermaßen, da einer von uns beiden aus der Übung war und vielleicht auch etwas zu erregt. Egal, wir steigen wieder ein in die Szene an dem Punkt, als die beiden Protagonisten nebeneinander in den Kissen liegen, die Bettdecke züchtig hochgezogen bis zum Kinn und durch die Tür stumm beobachtet von einem ausgestopften Otter und dem Kopf eines Porzellanbassets, der unter einer zerschlissenen Gingham-Tischdecke hervorlugt. Es herrschte vollkommene Stille - als ob in der großen weiten Welt niemand wach sei außer uns beiden, als ob wir der Welt ein Schnippchen geschlagen hätten. Und obwohl da draußen unsere Probleme immer noch die gleichen waren, so gehörten diese Augenblicke doch ganz uns, und es lag an uns, wie sie verstreichen würden. Nach so viel Tumult war es einfach schön, nichts reden oder denken zu müssen.
Zwischen zwei langen Spannen völliger Gedankenleere ging mir träge die Frage durch den Kopf, was ich ihr morgen zum Frühstück anbieten könnte. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 08.06.2006