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Er hat gesagt, wenn sich was ergeben sollte, ich sage, wenn, dann nur auf der Basis, dass Telsinor als einziger Partner des Theaters auftritt, das heißt, mit einem Rundum-Sponsorship-Paket É« Er quittierte das Johlen und Pfeifen mit einem bescheidenen Achselzucken und bat dann mit dämpfenden Handbewegungen um Ruhe. »Ich darf euch daran erinnern, dass wir vorher noch das Stück auf die Bretter bringen müssen.«
Alle lachten. Außer Bel, die Harry gekränkt anschaute. »Ich dachte, wir wollten keinen einzelnen Sponsor.«
»Das war doch nur, weil wir geglaubt haben, dass einer allein das nie machen würde«, sagte Harry.
»Nein, ich dachte, wir wären uns einig gewesen, dass, wenn alles Geld von einem Geldgeber kommt É«
»Ach, Darling, das hatten wir doch alles schon«, schaltete Mutter sich ein. »Die Regierung hält uns hin; wir können nicht ewig warten. Und wenn wir schon bei Kompromissen sind, was glaubst du wohl, wie kompromissbereit die Bank ist, wenn wir einen Kredit aufnehmen und den dann nicht zurückzahlen können?É Charles, was schleichst du da herum?«
»Ich schleiche nicht herum, ich stehe einfach da, jeder kann mich sehen.«
»Du sollst dich doch um die Garderobe kümmern. Hast du etwa diesen armen Schwachkopf da unten allein gelassen?«
»Ich wollte nur eben reinschauen und viel Glück É«
Allgemeines Aufstöhnen.
»Oh, Entschuldigung, ich meine natürlich Hals- und Beinbruch.«
»Charles!« Mutter packte mich fest am Ellbogen und schob mich Richtung Tür. »Zufällig haben wir heute Abend wichtige Gäste. Versuche doch bitte ein einziges Mal, dein exaltiertes Gekasper auf ein Minimum zu reduzieren, ja?«
»Fünf Minuten!«, rief das Pummelchen, das in der Tür erschien. Alle stöhnten auf und hasteten noch hektischer herum als vorher. Durch das Tohuwabohu der Leiber konnte ich sehen, dass Harry immer noch geistesabwesend Bels Schulter massierte. Bel wandte sich jetzt dem Spiegel zu, presste eine Hand auf ihr nacktes Schlüsselbein und starrte in den Spiegel, als suche sie in seinen Tiefen etwas, das sie verloren hatte.
Ich eilte die Treppe hinunter. Halle und Musikzimmer waren leer, der Garderobenraum war abgeschlossen. Ich ging in den abgedunkelten Zuschauerraum, zog die Flügeltür hinter mir zu und nahm meinen Platz ein.
»Alles in Butter, Charlie?«, sagte Frank.
Ich war ziemlich außer Atem. Ich hustete bloß und deutete nach vorn, wo sich der Vorhang hob, ein einzelner Punktstrahler aufleuchtete und ein Mädchen in einem Rollstuhl auf die Bühne rollte.

In der Garderobe hatte Bel schrecklich nervös ausgesehen, und angesichts ihrer wechselvollen Bühnenerfahrung hätte man mit Recht das Schlimmste befürchten können. Aber in der Eröffnungsszene machte sie ziemlich clever einen Vorteil daraus. Während sie nörgelnd in der Küche irgendeines Vorstadthauses herumrollte, wurde aus dem Rollstuhl eine Art Schutzpanzer, der sie von ihrer Umgebung abschottete. Ihre Nervosität verwandelte sie in die aufsässige, aufgestaute Energie eines Menschen, der sich vom Leben betrogen glaubte. Dann betrat Mirela die Bühne, und wie schon im ersten Stück wirkte plötzlich alles wie aus einem Guss.
Die drei Maskenbildnerinnen hatten ganze Arbeit geleistet. Sie wirkte auf den ersten Blick vollkommen ungekünstelt und nahm vollkommen für sich ein. Sie war wie ein Magnet, sie zog den Zuschauer in sich hinein; plötzlich fiel einem gar nicht mehr auf, dass die Dialoge abgedroschen waren, dass das Model hinkte und die Gelähmte dauernd mit dem Fuß auf den Boden stampfte. Es hatte den Anschein, als könnten die Scheinwerfer sich gar nicht von ihr losreißen; das Licht umschwirrte sie wie bunte Schmetterlinge.

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efangen zwischen kranker Mutter und blutsaugerischer Schwester, konnte man gar nichts anders, als mit ihr zu fühlen. Nichts war Bel gut genug. Unablässig triezte sie ihre Schwester, forderte pausenlos ihre Güte und Zuneigung und schien fest entschlossen, Mirelas viel versprechende Modelkarriere aus reiner Boshaftigkeit abwürgen zu wollen - obwohl Mirela das Geld nur wollte, damit Bel jenen Arzt aufsuchen konnte, der wegen seiner revolutionären, wenn auch potenziell tödlichen neuen Heilmethode in aller Munde war.
»Ann, du verwöhnst deine Schwester zu sehr«, sagte Mutter. Sie lag in ihrem Krankenhausbett und streichelte Mirelas Wange. (Mutter war auch ziemlich gut - nur ein Grobian hätte darauf hingewiesen, dass sie in ihrer Bühnenrolle weitaus überzeugender war als jemals bei Bel und mir.) »Wir alle haben sie zu sehr verwöhnt. Sie will mich besuchen, sagt sie. Weißt du, was das heißt? Damit will sie dich nur noch mehr quälen, noch mehr manipulieren. Wenn sie dir eine richtige Schwester wäre und mir eine richtige Tochter, dann wüsste sie, dass ich sie immer lieben werde. Aber sie ist blind. Sie begreift nicht, Ann, dass Liebe das Entscheidende ist. Sie begreift nicht, dass sie die Rampe nicht hier auf den Stufen des Krankenhauses bauen muss, sondern in ihrem eigenen Herzen. Sie muss eine Rampe bauen, die sie über ihre eigene Selbstsucht und über die Bitterkeit hinwegträgt, die daher rührt, dass sie als Kind überfahren wurde und fortan an den Rollstuhl gefesselt war.«
»O Mutter!«, stieß Mirela leise hervor und wandte sich schüchtern, mit andächtig gefalteten Händen vom Bett ab. »Mary ist deine Tochter! Wir können nicht einfach aufhören, uns um sie zu kümmern, nur weil in unserer schnelllebigen, modernen Welt für die Unglückseligen kein Platz ist. Für mich gibt es keine größere Freude, als für sie zu sorgen, in der Hoffnung, dass sie eines Tages wieder gehen kann.«
»Sie ist so nett«, sagte Frank mit Tränen in den Augen und drückte meine Hand. »Warum lässt Bel sie nicht É nicht einfach in Ruhe?«

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ch weiß nicht. Au, das tut weh!« Ich entwand ihm meine Hand und rieb mir die schmerzenden Knöchel. Tatsächlich war ich geneigt, ihm zuzustimmen: Bel sollte sie wirklich in Ruhe lassen. Als dann Harry auftrat, der Anwalt der Entrechteten, ertappte ich mich bei dem Wunsch, Mirela möge mit ihm durchbrennen und das Zuchthaus für immer hinter sich lassen. Doch dann erhaschte ich von dem lausigen Platz, den mir Mutter im hintersten Eck zugewiesen hatte, einen kurzen Blick auf Bel, die in den Kulissen auf die nächste Szene wartete. Sie saß so gleichgültig und griesgrämig in ihrem Rollstuhl, so entrückt und verlassen, dass sie mir sofort Leid tat.
Über diese Szene, in der Bel Harry mit einem Teller Kekse verführt, die eigentlich Mirela für ihn gebacken hatte, wurde in der Garderobe während der folgenden Pause ausführlich debattiert.
»Ich sag ja nicht, dass es schlecht ist«, sagte Laura. »Ich kapier bloß nicht, warum Harry nicht hinter dem Model her ist. Sie ist so wunderschön, und er ist so stürmisch, die beiden passen einfach perfekt zusammen É«

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on stürmisch seh ich da nichts«, bemerkte ich miesepetrig. »Ich glaube, er käme schwer in Schwulitäten, wenn er tatsächlich irgendwo hinstürmen wollte, danach zu urteilen, wie er im Moment seine Weste ausfüllt. Na ja, egal, aber warum nicht Bel?«
»Hallo, Charles, aufwachen! Sie sitzt im Rollstuhl, schon aufgefallen?«
»Genau, Charlie, und dauernd dreht sie linke Dinger.«
»So böse ist sie auch wieder nicht«, sagte ich störrisch.
»Charlie«, sagte Frank feierlich. »Die Kekse waren von Mirela, das weißt du genau.«
»Ich meine ja bloß, da hat man ganz schön dran zu schlucken«, sagte Laura mit gerunzelter Stirn. Und dann fingen die beiden völlig grundlos an zu kichern. Es war ermüdend, also sagte ich ihnen, dass sie keine Ahnung von Theater hätten, und stapfte davon, um mir einen Drink zu holen.
Im Musikzimmer hatten Vuk und Zoran »Some Enchanted Evening« angestimmt, unterstützt von einem Kumpel aus China auf der Erhu und einem Burschen aus Mosambik, der auf einer Djembe den Takt schlug. Die Bar wurde von dickbäuchigen Geschäftsleuten belagert. Der strohhaarige Telefonmensch OÕBoyle stand vor mir und unterhielt sich mit einem anderen Anzugträger über Grundstücke an der Algarve. »Die sollen da ganz brauchbare Golfplätze haben«, sagte der andere Anzugträger gerade.
»Absolut fabelhaft«, bestätigte Niall OÕBoyle.

A
ls ich schließlich an der Reihe war, hatte die Klingel schon wieder gerufen, und ich musste los, um Frank zu suchen und mit ihm die Gäste in den Saal zurückzuscheuchen. Ich hatte mich gerade auf meinem Platz niedergelassen, als ich von irgendwo unter mir ein Psst hörte. Ich schaute nach unten und sah eine vermummte Gestalt, die neben meinen Füßen in der Dunkelheit kauerte. »Psst!«, sagte die Gestalt noch einmal. Erst dachte ich, irgendwer habe übermäßig dem roten Bordeaux zugesprochen und sei nun etwas verwirrt. Doch dann sagte die Gestalt, »Charles!«, und ich wusste, dass das nicht irgendwer, sondern Bel war.
»Was machst du hier?«, flüsterte ich. »Musst du nicht auf die Bühne?«
»Sei still«, zischte Bel. »Mich darf hier keiner sehen.«
»Ja, richtig«, sagte ich. Natürlich. Der Wille, auf jeden Zweifel an der Glaubwürdigkeit zu verzichten - sehr wichtig bei einem Stück.
»Du musst MacGillycuddy für mich finden«, flüsterte Bel.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 31.05.2006