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Bel zog ein paar Haarnadeln aus ihrem Haar und legte sie auf die Frisierkommode. »Es geht um ein Mädchen in einem Rollstuhl. Das bin ich. Meine Mutter ist im Krankenhaus, sie hat Krebs, sie liegt im Sterben. Aber ich kann sie nicht besuchen, wegen der Treppenstufen. Also verklage ich das Krankenhaus, damit sie eine Rampe bauen. Und daraus wird dann eine gigantische Schlacht vor Gericht und ein Aufsehen erregender Rechtsstreit.«
»Oh«, sagte ich.
»Klar, dass das alles allegorisch gemeint ist.«
»Klar«, sagte ich, obwohl mein Verstand andere Dinge schrie. Großer Gott im Himmel! zum Beispiel oder Wie kommt der Kerl mit so was bloß durch? Ich setzte mich aufs Bett und blätterte im Manuskript. »Das ist also die Rolle, die er für dich geschrieben hat? Die er dir auf den Leib geschrieben hat?«
Bel nickte, nahm eine Bürste aus einer Schublade und bürstete sich das zerzauste Haar aus.
»Nach den vielen Kursivstellen zu urteilen, musst du ja ziemlich oft brüllen in dem Stück«, merkte ich an - eine Beobachtung, die mir die Sache auf den Punkt zu bringen schien.
»Das ist zufällig eine sehr gute Rolle«, sagte sie zum Spiegel, während sie kräftig bürstete. »Das ist eine komplizierte Frau, die ich da spiele. Rollen für komplizierte Frauen sind selten.« Sie griff sich ins Haar, um ein Haarknäuel zu entwirren. »Bei der Hälfte der Frauenrollen darf man bloß hübsch aussehen und ab und zu mal weinen.«
»Und wer ist die wunderschöne Schwester? Mirela?«
»Mmm«, sagte Bel wenig begeistert. »Harry spielt den Anwalt, und Mutter ist die kranke Mutter, obwohl ich sie angefleht habe, es bleiben zu lassen.«
»Irgendwie komisch, dass du das Mädchen im Rollstuhl spielst und Mirela das Model«, witzelte ich. »Wenn man bedenkt, dass sie ja diejenige ist, die nur ein Bein hat.«
Bel sagte nichts darauf, doch sie bürstete jetzt heftiger, und man konnte das Knistern hören, wenn die Bürste an den Haaren riss.
»Ich meine, ist doch komisch, wenn manÕs genau bedenkt«, wiederholte ich - für den Fall, dass sie mich nicht verstanden hatte.
»Charles, ich bin wirklich ziemlich beschäftigt«, sagte sie plötzlich zum Spiegel.
»Schon gut«, sagte ich milde. »Mach einfach weiter, achte gar nicht auf mich.«
Sie verdrehte die Augen und fing an, ihr Gesicht mit einem Wattebausch abzutupfen.
Ich stand auf und ging zum Fenster. Es war warm und stickig; mich wunderte, dass sie das nicht merkte. »Was dagegen, wenn ich das mal aufmache? Mein Hals fängt schon an zu jucken.« Sie zuckte mit den Achseln. Ich schob das Fenster hoch und schaute nach draußen.

E
s war Winter. Hier draußen, wo die Dinge lebten und wieder starben, sah man das besser als durch ein kleines Fensterviereck, das von Wolken oder Feuerwerkskörpern ausgefüllt wurde. Im Garten klammerten sich die Bäume an ihre letzten Blätter. Wie dünne Mädchen, die man beim Nacktbaden erwischt hatte, leuchteten sie tiefrot. Der alte Thompson, dem man jedes seiner eine Million Jahre ansah, trotzte auf seiner Veranda der Kälte. Ein silbriger Nebel, der aussah wie ein kilometerbreiter Teppich aus Spinnweben, drängte von See her ins Land.
»Frank lässt dich grüßen«, sagte ich und kitzelte mit der Fingerspitze die Lilie auf der Fensterbank. »Eigentlich wollte er auch kurz reinschauen, aber er musste gleich wieder weg. Irgendwas Wichtiges.«
»Gut«, brummte sie entschiedener, als unbedingt nötig gewesen wäre. Ich wandte mich halb um und sah aus dem Augenwinkel, dass sie sich mit gerunzelter Stirn im Spiegel betrachtete. Sie sah ganz anders aus, als sie sich zuletzt am Telefon angehört hatte - als sie noch so voller Energie gewesen war. Mutter hatte Recht: Etwas Düsteres, das nichts Gutes verhieß, umwölkte ihre Stirn. An einer Schnur um den Hals trug sie eine Art Anhänger - eine glatte Metallscheibe, die mir irgendwie bekannt vorkam.
»Also, wie gehtÕs dir so?«, fragte ich unschuldig. »Alles in Ordnung?«
Sie warf den Wattebausch in den Papierkorb. »Alles bestens«, murmelte sie und schraubte den Deckel von einem Töpfchen mit duftendem Balsam, das zu einer kleinen Armada aus Badeölen, Reinigungslotionen und Gesichtscremes gehörte, die die Frisierkommode bedeckten.
»Kommt mir so vor, als wenn du É äh É ein bisschen durch den Wind wärst.«
»Alles bestens«, wiederholte sie. »Ich bin ein bisschen müde, das ist alles. Ist ein Haufen Arbeit, so ein Stück auf die Beine zu stellen.«
»Wirklich?«

D
u machst dir keinen Begriff.« Sie beugte sich zum Spiegel vor, tupfte sich zwei Kleckse unter die Augen und verrieb sie auf den Wangen. »Das macht so viel Arbeit, dass ich manchmal schwören könnte, das verdammte Haus arbeitet gegen mich und will das Theater verhindern. Ich weiß, das hört sich lächerlich anÉ Trotzdem, ist mir egal, ich mag das alles, die Proben, nächtelang die Scheinwerfer einstellen, die Plakate entwerfen und tausend andere Sachen, alles auf einmal, ja, mir gefällt das. Was mir wirklich an die Nieren geht, ist das Geld. Das endlose Gerede über Geld. Als wenn es nichts anderes geben würde auf der WeltÉ
»Wieso Geld?«, sagte ich.
»Weil wir keins haben«, sagte sie. »Ich meine, eigentlich müsste genug da sein, zumindest so viel, dass wir so eben durchkommen. Aber jedes Mal, wenn ich Mutter darauf anspreche, hat sie keine Zeit, und wenn ich mir selbst die Familienkonten anschaue, blicke ich nicht durch. Sieht aus wie ein Labyrinth oder wie ein modernes Kunstwerk oder so. Und ohne Geld geht gar nichts. Wir können keine Werbung machen, also kommen keine Zuschauer, also kriegen wir keine öffentlichen Zuschüsse - das ist ein Teufelskreis.« Mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass es nur einen einzigen Weg gegeben hätte, um für Feuer frei! an mehr Zuschauer zu kommen: wenn man unten an den Docks betrunkene Seeleute kidnappte. Ich behielt den Vorschlag aber für mich. »Der Schauspielunterricht und das Hilfsprogramm, das liegt alles auf Eis, weil wir dauernd diese endlosen Meetings haben, und Meetings über Meetings, und Meetings über Meetings über Meetings, und alle reden und reden und keiner tut irgendwas.« Ihre unheilvoll umwölkte Stirn bewölkte sich noch mehr. »Mirela will für das nächste Stück eine Fundraising-Party, eine Extraveranstaltung nur für geladene Gäste, wo wir Firmensponsoren anwerben können.«
»Und wenn schon! Mirela weiß wahrscheinlich, wovon sie redet«, warf ich ein. Was offenkundig genau der falsche Einwurf war. Sofort lief Bel scharlachrot an und hielt mir einen Vortrag darüber, dass Banken, E-Business-Unternehmen, Telefongesellschaften und der Rest dieser Bagage genau die seien, gegen die sich die Arbeit des Theaters richten sollte, und lieber würde sie die ganze Sache scheitern lassen als sich zu verkaufen und so weiter und so fort.
»Ich hab ja nur gemeint, dass É Sie hat doch sicher mit ihrer Gruppe damals in Slowenien, oder wo das war, so was schon mal gemacht, oder?«, sagte ich. »Da weiß sie doch wahrscheinlich, wie so was abläuft, das meine ich.«
»Zumindest tut sie so«, sagte Bel eisig.
»Was soll das jetzt wieder heißen?«

B
el öffnete den Mund, schloss ihn, öffnete ihn wieder. »Das soll heißen, dass sie daherkommt wie die große Schauspielerin, die alles schon mal mitgemacht hat, aber in Wahrheit ist sie ein großes Nichts ohne die geringsten eigenen Gefühle. Ich meine, was macht sie denn? Sie läuft rum und erzählt den Leuten, was sie hören wollen, damit alles nur nach ihrem Kopf geht. Wenn du mich fragst, ist die Nummer inzwischen ziemlich ermüdend É«
Ich verglich die Mirela, die Bel mir präsentierte, mit der empfindsamen, Finger drückenden Vielleicht-können-wir-ja-später-noch-reden-Mirela, der ich auf der Treppe begegnet war. Es war schmerzlich klar, dass Bels Version nicht zu halten war. »Das ist Unfug«, sagte ich.
»Ist es nicht«, sagte Bel gereizt und trat mit dem Fuß gegen das Bücherregal.
»Was tut sie denn, das so schlimm ist? Sag mir ein Beispiel dafür, dass sie ein Nichts ist und wo es nach ihrem Kopf gegangen ist.«
Aus der Ecke, in die sich Bel und ihre umwölkte Stirn zurückgezogen hatten, kam brummelnd etwas darüber, dass sie sich ihre Klamotten ausborge, ohne zu fragen.
»Aah, sie borgt sich deine Klamotten aus!«, sagte ich höhnisch. Ich musterte sie von oben bis unten; sie blickte finster drein und zupfte und zog zwanghaft an ihrem Anhänger. »Du weißt selbst, dass du dich äußerst seltsam aufführst.«

B
el rümpfte die Nase und schaute dann auf den Boden.
»Es läuft doch nichts schief im Moment, oder? Diese Geschichte mit Harry, ist das etwa in die Hose gegangen?«
»O mein Gott«, rief sie aus, stampfte zum Bett und nahm mir das Manuskript wieder weg. »Ist dir jemals in den Sinn gekommen, Charles, dass ich hin und wieder Probleme haben könnte, die nichts mit Männern zu tun haben?«
»Ich frag ja nur«, sagte ich. »Ich stell ja nur sicher, dass alle auch alles genau bedenken und niemand sich irgendwelche Freiheiten herausnimmt É«
»Fällt es dir so schwer zu glauben, dass jemand mit mir zusammen sein will ohne irgendein anderweitiges Motiv - wie Möbel klauen oder auf dein Zimmer spekulieren?«
»Nein, nein, natürlich nicht«, sagte ich. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 22.05.2006