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EU-Verfassung in Frage gestellt

Brüsseler Kommissionspräsident Barroso verteidigt sein Strategiepapier

Brüssel (Reuters). EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso hat die Europäische Verfassung in Frage gestellt. Nur einen Tag nach der Annahme des Vertrages durch Estland sagte Barroso gestern in Brüssel, er könne nicht sagen, ob es am Ende der noch einige Jahre dauernden Debatte die Verfassung geben könne.

Die Entscheidung liege bei den bald 27 EU-Staaten. Das Nein von Franzosen und Niederländern zähle genauso wie die Zustimmung von bislang 15 anderen EU-Staaten. Er wolle auch Finnland, das jetzt seinen Ratifikationsprozess startet, keine Empfehlung geben. Die EU müsse sich jetzt auf konkrete Ergebnisse ihrer Arbeit konzentrieren, um Vertrauen bei den Bürgern zurückzugewinnen.
Im kommenden Jahr sollten die Staats- und Regierungschefs dann zum 50-jährigen Bestehen der Gemeinschaft im März eine feierliche Erklärung verabschieden, um sich zu Europa zu bekennen, schlug Barroso vor. Dann solle die Debatte über die Institutionen beginnen.
Zugleich rief er die nationalen Regierungen auf, sich stärker zu gemeinsamen Entscheidungen der EU zu bekennen. Ohne einzelne Regierungschefs zu nennen, sagte er, viele nähmen europäische Erfolge gerne für sich in Anspruch. »Aber wenn sie ein Problem haben, dann machen sie es zu einem Problem mit Europa.«
Barroso verteidigte sein bereits bekannt gewordenes Strategiepapier gegen Kritik. Wenn er bereits jetzt ohne Verfassung mehr EU-Entscheidungen in der Innen- und Einwanderungspolitik wolle, dann sei dies kein Rosinenpicken, sagte Barroso. Die Kommission wolle lediglich alle Möglichkeiten nutzen, die die bisherigen EU-Verträge mit sich bringen.
EU-Parlamentarier aus den beiden großen Fraktionen hatten Barroso vorgeworfen, damit die Verfassung weiter zu behindern. Der Vorsitzende der Christdemokraten, Hans-Gert Pöttering, hatte Barroso ein zu geringes Engagement für die Verfassung vorgeworfen. Nach Vorstellung der Vorschläge sagte er, konkrete Ergebnisse für die Bürger seien zwar der beste Weg, um die Menschen vom Nutzen Europas zu überzeugen. Die Vorschläge seien aber kein Ersatz für den Verfassungsvertrag.
Der SPD-Abgeordnete Jo Leinen sagte als Vorsitzender der Verfassungsausschusses: »Indem Barroso einige Stücke aus dem Verfassungs-Vertrag herausschneidet, schiebt die Kommission diesen auf die lange Bank.« Auch er mahnte, das Europa der vielen kleinen Projekte könne kein Ersatz für das große Projekt der Europäischen Verfassung sein.
Barrosos Vize-Präsidentin Margot Wallström sagte, die Bürger der EU interessierten sich nicht dafür, wie die EU funktioniere. Sie wollten wissen, was Europa für sie tue. Barroso verwies auf Vorstöße der Kommission gegen hohe Mobiltelefon-Gebühren im Ausland und bekräftigte, auch mehr für den grenzüberschreitenden Wettbewerb bei Versicherungen unternehmen zu wollen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte, wie berichtet, bereits in einer Grundsatzrede am Dienstag vor zu hohen Erwartungen an die deutsche Ratspräsidentschaft in der Verfassungsdebatte gewarnt. Der Moment zum Handeln sei noch nicht gekommen. »Das Warten heißt also nicht, es langsam einschlafen zu lassen, sondern den geeigneten Zeitpunkt zum Handeln zu finden«, sagte sie. Zugleich wandte sie sich gegen den im aktuellen Verfassungsentwurf vorgesehenen zeitweisen Verzicht aller Länder auf einen Sitz in der EU-Kommission.
Heute gibt Merkel im Bundestag eine Regierungserklärung zu Europa ab.

Artikel vom 11.05.2006