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Mahner, Warner und Brückenbauer in einem

Paul Spiegel, Präsident des Zentralrats der Juden, ist tot

Von Gerd Korinthenberg
Düsseldorf (dpa). Paul Spiegel, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland und Repräsentant von mehr als 100 000 Juden, ist gestern nach langer, schwerer Krankheit im Alter von 68 Jahren gestorben.

Kein zweites öffentliches Amt in der Bundesrepublik bringt wohl ein solches Wechselbad der Gefühle mit sich: Als Nachfolger des von ihm hochverehrten Ignatz Bubis hatte der Düsseldorfer Unternehmer das Amt des Zentralratspräsidenten seit Januar 2000 inne. Spiegel wird Mittwoch in Düsseldorf beigestezt. Er wurde am 31. Dezember 1937 in Warendorf geboren, sein Vater stammte aus Versmold.
Spiegel war ein klarer Warner vor stets spürbaren antisemitischen Tendenzen. Er mahnte eine kämpferische Demokratie an und galt als konzilianter Brückenbauer zur nichtjüdischen Mehrheit der Deutschen. Jeder Angriff auf eine Minderheit »ist ein direkter Angriff auf unsere Demokratie und damit auf jeden Staatsbürger«, lautete das Credo Spiegels, der als wohl letzter Zentralratspräsident zur Generation der Holocaust-Überlebenden gehört hat.
Paul Spiegel konnte sich im Januar 2003 über den Abschluss des ersten Staatsvertrages zwischen Zentralrat und Bundesregierung freuen. Dieser markiere eine »gesellschaftliche Anerkennung der Juden, die längst überfällig war«. Auch der erste Besuch eines israelischen Staatspräsidenten bei einer Synagogen-Eröffnung auf deutschem Boden galt als ein Höhepunkt seiner Amtszeit.
Längst, so Spiegels Diagnose, seien antisemitische Einstellungen »in der Mitte der Gesellschaft« angekommen. Spiegel schaltete sich in die hitzige Debatte um die »deutsche Leitkultur« ebenso ein wie in die Diskussion um das Berliner Holocaust-Memorial.
Die Zuwanderung zehntausender Juden aus dem ehemaligen Ostblock, die Spiegel oft das Wunder einer Wiederbelebung jüdischen Lebens auf deutschem Boden nannte, stellt die Gemeinden vor gewaltige finanzielle und interne Spannungen. Eine Integration der Zuwanderer, die zumeist ihrer religiösen Wurzeln entfremdet sind, hinterlässt Spiegel seinem Nachfolger als schwere Aufgabe. Von der nicht-jüdischen Öffentlichkeit fast unbemerkt, gelang jedoch die Aufnahme der liberalen jüdischen Gemeinden, die ihren Anteil an den Bundesmitteln des Staatsvertrages eingefordert hatten, unter das Dach des Zentralrates. Damit war eine Spaltung der Juden verhindert.
Wie fast bei allen deutschen Juden war auch der Lebenslauf Spiegels von Schrecken und Erinnerung geprägt. Den NS-Rassenwahn überlebte er als Kind versteckt im besetzten Belgien, während seine ältere Schwester in den Tod verschleppt wurde. Nach dem Vorbild seines Vaters, der drei Konzentrationslager durchlitten hatte, widmete er sich dem Aufbau des jüdischen Gemeindelebens.
Spiegel arbeitete von 1965 an als Redakteur und gründete 1986 auf Anregung des TV-Entertainers Hans Rosenthal eine Künstleragentur. Bereits in Spitzenpositionen jüdischer Organisationen, wurde Spiegel 1993 zunächst Vizepräsident des Zentralrates. Nach dem plötzlichen Tod von Bubis trat er 2000 dessen Nachfolge an.

Artikel vom 01.05.2006