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Wenn von 400 Euro mehr nur 40 Euro übrig bleiben

Zuverdienst bei ALG II oft sinnlos - Mindestlohn in welcher Höhe?

Von Reinhard Brockmann
Bielefeld (WB). Mindestlohn, Ringen um das Arbeitslosengeld II und Kombilohn: Drei Baustellen im politischen Berlin, die bei genauem Hinsehen sehr nah beieinander liegen.

Ein Mindestlohn kann per Gesetz oder Tarifverhandlung festgelegt werden. Ziel ist, dass ein Vollzeitbeschäftigter mehr verdient, als er für Nichtstun durch Sozialleistungen erhielte. Die Crux: Je mehr einer zum Arbeitslosengeld II hinzuverdienen will, um so weniger lohnt die Anstrengung. Außerdem: Beschäftigung entsteht de facto nur, wenn sittenwidrig niedrige Löhne von unter fünf Euro gezahlt werden.
Die untersten Tariflöhne liegen in West-Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamtes zwischen 4,96 Euro je Stunde (Wachschutz), 7,87 Euro (Gebäudereinigung) und 10,38 Euro (Metallindustrie). Linkspartei und »attac« behaupten, de facto flössen noch niedrigere Löhne.
Die Befürworter einer Mindestlohnregelung, darunter auch Teile der SPD sowie Arbeitnehmervertreter in der CDU, erhoffen sich soziale Gerechtigkeit und die Sicherung des Existenzminimums. Für die »Initiative Mindestlohn« von ver.di und der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten liegt »die untere Grenze gegen Arbeit in Armut bei 7,50 Euro«, sagt Verdi-Vize Margret Mönig-Raane. Der Wert müsse schrittweise bis 9 Euro pro Stunde erhöht werden, sagt sie. Erst dann läge Deutschland an der unteren Grenze der Mindestlöhne westeuropäischer Staaten.
Der Bielefelder FDP-Politiker Otto Sauer sieht dagegen bei einer Mindestlohnregelung gleich zwei Gruppen von Verlierern: Zum einen Menschen, die eine Beschäftigung haben und deren Verdienst unter dem von Gewerkschaftern geforderten Mindestlohn von 7,50 bis 9 Euro läge. Sauer: »Hier würde es eine Kündigungsflut geben, wenn die Arbeitgeber die höheren Löhne nicht in den Preisen weitergeben können und dies wird überwiegend der Fall sein.«
Problematisch würde es auch für Langzeitarbeitslose: Für einen Single beträgt das Arbeitslosengeld II 345 Euro pro Monat. Aus Zuverdiensten darf der Empfänger wie folgt etwas behalten: Die ersten 100 Euro komplett, dann bis 800 Euro 20 Prozent, höchstens also 140 Euro. Wer bis 1200 Euro hinzuverdient, kann vom weiteren Mehrverdienst maximal 40 Euro behalten. Fazit: Vorausgesetzt er findet einen 1200-Euro-Job, kann der ALG II-Empfänger kostenlos wohnen und 625 Euro netto einbehalten. Soweit gut, soweit Gesetz.
Allerdings stoßen auch ohne Mindestlohngesetz beispielsweise 5 Euro pro Stunde (800 Euro Monatseinkommen) nach Einschätzung von Sauer, der lange Jahre Geschäftsführer einer Bielefelder Industriefirma war, jetzt schon auf hohe Hürden: Tarifverträge wie die Haltung der Arbeitsagenturen, die Niedriglöhne als sittenwidrig ansehen, verhinderten dies.
Der FDP-Mann denkt sein Modell dennoch weiter. Bei fünf Euro Verdienst pro Stunde würden nämlich wieder reichlich Stellen im Handwerk, Handel, Gewerbe, Heimarbeit und Dienstleistungssektor, gerade für Ungelernte, angeboten, ist er sicher.
Sauer: »Für Arbeitnehmer macht es praktisch keinen Sinn, statt 800 Euro Bruttoeinkommen 1200 Euro pro Monat zu haben, da höchstens 40 Euro übrig bleiben.« Auch die Arbeitgeber würden für diesen Sprung von 800 auf 1200 Euro wohl kaum 486 Euro mehr ausgeben. De facto heißt das laut Sauer selbst für den 800 Euro-Jobber: »Ohne Qualifizierung gibt es bei einem Mindestlohn von mehr als 5 Euro pro Stunde keine Chance, eingestellt zu werden.«
Besser wäre es, so sein Vorschlag, die Zuverdienstsätze von heute 20 auf 25 oder 30 Prozent zu erhöhen. Die öffentlichen Kassen werden bei einem Bruttozuverdienst von 800 Euro bei der jetzigen Regelung um 730 Euro pro Monat entlastet. Bei der Option, den ALG II-Empfängern 35 bzw 70 Euro pro Monat mehr zu belassen, verminderte sich die Entlastung nur um 50 oder 100 Euro pro Monat. Sauer. »Für alle Beteiligten, Staat, Arbeitslose und Wirtschaft eine gute Lösung.«
Soviel Klarheit lassen die beiden großen Volksparteien selbst in der soeben gestarteten Programmdiskussion nicht zu. Das Wort »Mindestlohn« kommt bei ihnen nicht vor. Die SPD umschreibt: »Alle Menschen haben das Recht, aber auch die Verpflichtung, ihren eigenen Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit zu bestreiten, sofern sie dazu in der Lage sind.«
Nächste Folge: eine ALG-II-Empfängerin rechnet exakt vor.

Artikel vom 29.04.2006