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Gene war verwirrt und wurde von Schuldgefühlen gepeinigt. Hatte sie nicht immer versucht, ein guter Mensch zu sein? Hatte sie nicht immer getan, was die Leute von ihr verlangten? Was hatte sie getan, dass sie und die Menschen, die sie liebte, eine solche Katastrophe heimsuchte? Sie wehrte sich, solange sie konnte, aber sie war vierundzwanzig Jahre alt, und nach allem, was passiert war, wurde der Druck jetzt zu groß. Daria wurde in einem Heim untergebracht, wo sie mit dem Verstand eines neunzehnmonatigen Kleinkindes den Rest ihres Lebens verbrachte. An einem Sonntag Jahre später wurde Gene während einer Party eines Tennisclubs von einem weiblichen Fan angesprochen. Die junge Frau war ein Ex-Marine. Sie sagte, sie seien sich früher schon mal begegnet, während des Kriegs bei einer Show in der Hollywood Canteen. »Kann es sein, dass Sie sich an jenem Abend mit den Röteln angesteckt haben?«, fragte die Frau. Gene sagte ja. Die Frau lachte und sagte, dass damals das ganze Militärlager Röteln gehabt habe, dass sie sich aber trotz der verhängten Quarantäne davongeschlichen habe, um ihren Lieblingsstar treffen zu können.
Jeder andere hätte einen Schreikrampf bekommen oder wäre auf die Frau losgegangen, aber Gene, die dazu erzogen worden war, nett zu sein, lächelte nur und ließ die Frau stehen.

D
anach, so kam es mir vor, wurden die Filme, die sie drehte, zu einer Art Zufluchtsstätte für Gene. Nicht die Arbeit oder die Drehbücher, sondern die Filme selbst. Während die Treuebrüche ihres Mannes zunahmen, während die Geburt ihres Kindes bewirkte, was die vereinten Kräfte von Eltern und Studios nicht erreicht hatten, nämlich die langsame Auflösung ihrer Ehe mit Cassini, schienen die Filme zu den Orten zu werden, wo sie sich verstecken, wo sie unsichtbar werden konnte. Zum Beispiel The Ghost and Mrs Muir: Sie spielt darin eine Witwe, die dem Geist verfällt, der in dem Landhaus umgeht, in das sie eingezogen ist. Der Geist, gespielt von Rex Harrison, erregt ihre Aufmerksamkeit erstmals in Form eines Porträts im Wohnzimmer - eine genaue Umkehrung dessen, was in Laura passiert, als der Polizist sich in ein Gemälde der ermordeten Gene verliebt. Menschen verfallen Geistern, Menschen verfallen Gemälden, immer öfter fiel mir in ihren Filmen diese verborgene Neigung auf: die Neigung, sich innerhalb der Filme Räume für sich selbst zu schaffen, Zwischenräume der einen oder anderen Art; als ob sie den Filmen, obwohl sie sie nicht zu den ihren machen konnte, einen geheimen Pakt entlockte, wodurch sie sich in sie hineinflüchten und außerhalb des realen Lebens existieren konnte, unberührbar, als Bild; als ob sie schließlich ihre wahre Sphäre gefunden hatte - die der Illusion, des Schattenreichs, des Dazwischen É
»Charlie, das ist der scheißlangweiligste Film, den ich in meinem ganzen Leben gesehen hab.«
É obwohl das in anderen Filmen gar nicht zum Tragen kamÉ
»Genau, Charlie, außerdem fängt jetzt Hollyoaks an.«
»Wie wärÕs, Charlie, wenn du uns eben Hollyoaks anschauen lässt, und dann kannst du ja das Ding da fertig gucken.«
»He, Charlie, ich weiß, dass du uns hörst, warum sagst du dann nichts? Charlie?«
»Ach, Scheiße! Weil ich weiß, dass ihr nach Hollyoaks Streetmate anschauen wollt und danach Robot Wars und dann diese Zumutung von DawsonÕs Creek É«
»DawsonÕs Creek schau ich nie, Charlie.«
»So wie du dich gestern Abend aufgeführt hast, könntest du da mitspielen. Verdammt, noch eine halbe Stunde, dann bin ich glücklich und zufrieden, okay?«
»Also, ich würd der Alten höchstens eine Eins geben. Was meinst du, Frankie? He, Charlie, was würdest du É?«
»Jetzt passt mal gut auf, ihr Banausen.« Ich stand auf und fuchtelte wutentbrannt mit der zusammengerollten Fernsehzeitung herum, als wollte ich eine Horde räudiger Hunde vom Hof scheuchen. »Haltet, verdammt noch mal, das Maul, ein paar Minuten noch, dann gehört der Scheißfernseher wieder euch, okay?«
»Okay, okay É Scheiße, verdammte É« Die beiden verdrückten sich in die Küche, nur um ein paar Sekunden später wieder von vorn anzufangen.
»Scheiße, Droyd, was ist los mit dir? Kriegst du den Scheißjoint heute noch fertig?«
»Ach, haltÕs Maul, Frankie, sag mir lieber, wo das verdammte Papier abgeblieben ist.«
Und fünf Minuten später:
»Frankie?«
»Hmm?«
»Hast du dir schon mal dein Spiegelbild in Õnem Löffel angeschaut? Sekundenlang meint man, dass man aufÕm Kopf steht, stimmtÕs?«
»Ja, ja, stimmt.«
»Echt zum Fürchten, was?«
Auch ein Film kann einen nur bis zu einem gewissen Grad abschotten. Dieser Abend war der Abend, an dem mir der Geduldsfaden riss. Ich konnte das Schnalzen fast hören. Wie in Trance erhob ich mich vom Sofa und steuerte die Küche an, und es ist gut möglich, dass etwas Fürchterliches passiert wäre, hätte mich das Klingeln des Telefons nicht abgelenkt.
»Ja, was É? Oh.«
Es war Gemma Coffey von Sirius Recruitment. Sie hatte eine Stelle für mich.
Einen Moment lang war ich wie paralysiert. Konnte das wahr sein? Einfach so, aus heiterem Himmel? Kam ich schließlich doch noch an die Reihe, konnte ich schließlich doch noch das Schlagholz in die Hand nehmen und meine Rolle in diesem Spiel É
»Charles?«
»Ja, ich bin noch dran«, sagte ich matt.
»Nun, sind Sie bereit?«

I
ch versicherte ihr, dass ich das sei. Ich fügte hinzu, wie dankbar ich ihr sei, dass sie sich unter den Millionen, die an ihre Tür klopften, gerade an mich erinnerte, und dass ich ihr versichern könne, das ich an diese Arbeit wirklich glaubte, egal, worum es sich handle, und dass ich mein Äußerstes geben würde, um meinen Traum wahr werden zu lassen É
Sie sagte gut, gut, aber das sei bei dieser speziellen Arbeit nicht so wichtig. »Es ist eine zeitlich befristete Stellung, und sie ist nicht ganz so glamurös wie diejenigen, über die wir uns unterhalten haben. Es ist Fabrikarbeit. Sie haben doch kein Problem mit Fabrikarbeit, oder, Charles?«
»Es ist keine Konservenfabrik, oder?«, sagte ich. Mehr als eine begrenzte Anzahl an ironischen Wendungen in meinem Leben war ich nicht gewillt zu ertragen.
Gemma sagte, dass es keine Konservenfabrik sei, sondern eine Brotfabrik in Cherry Orchard. Der Kirschgarten! Ich sagte, dass ich in diesem Fall kein Problem damit habe und froh sei, Mitglied des Sirius Recruitment-Teams zu werden. Gemma schien sich darüber zu freuen, obwohl sie darauf hinwies, dass, technisch gesehen, nicht Sirius Recruitment, sondern deren Schwestergesellschaft Pobolny Arbitwo Recruitment mein Arbeitgeber sei. »Aber das ist unwichtig«, sagte sie. »Wichtig ist, dass ich Sie da draußen nicht vergessen werde, Charles. Wenn Sie das durchstehen, dann werde ich etwas wirklich Besonderes für Sie finden.«
Ich sagte ihr, dass sie auf mich zählen könne. Sie sagte, dass wüsste sie. Dann fragte sie, ob ich zufällig Lettisch spräche. Ich sagte, dass ich das nicht täte. Sie sagte, das spiele ohnehin keine Rolle. Sie gab mir eine Adresse, die Nummer der Buslinie, mit der ich dort hinkäme, und den Namen eines Mannes, Mr Appleseed, bei dem ich mich melden solle. Dann dankten wir uns gegenseitig und verabschiedeten uns.

N
och vor ein paar Minuten war ich drauf und dran gewesen, das Handtuch zu werfen! Als ob jemand einen Zauberstab geschwungen hätte, waren meine Probleme auf einmal verschwunden; die Flaute war durchgestanden, der Wind blähte wieder meine Segel.
Ich vergaß völlig, dass ich mit Frank und Droyd reinen Tisch machen wollte. Stattdessen stand ich im Wohnzimmer, strich mir übers Kinn und ließ lächelnd die gute Nachricht auf mich einwirken. Ich packÕs also doch, dachte ich, das System funktioniert. Im Fernseher hatten Gene und der Geist ihren Streit kurz ausgesetzt; sie zwinkerte mir verschmitzt zu.
Am nächsten Morgen startete ich noch bei Dunkelheit in meinen ersten Arbeitstag. Der Bus war voller mürrischer Männer, die meine jungfräuliche blaue Arbeitshose - ein Geschenk von Mutters Tante, der giftigen alten Jungfer - mit geringschätzigen Blicken bedachten. Cherry Orchard, ein trostloses Glasscherbenviertel, gab eine ganz brauchbare Kopie vom Ende der Welt ab. Anfangs hielt ich es noch für einen Jux, dass ein Industriegebiet den Namen mit Bels Lieblingsstück von Tschechow teilte. Allerdings hörte der Spaß - wie bei fast allem, was mit meiner Arbeit bei Fresh & Crispy zu tun hatte - fast augenblicklich auf.

A
ls Gemma gesagt hatte, dass ich in einer Brotfabrik arbeiten würde, hatte ich das für einen Versprecher gehalten. Schließlich wusste jeder, dass Brot nicht in Fabriken hergestellt wurde, sondern in Bäckereien, von rotbäckigen Männern mit hohen Mützen. Doch ich merkte schnell, dass der Fehler bei mir lag. Es handelte sich nämlich unleugbar um eine Fabrik. Wohin man auch schaute, überall schufteten Männer, die in den gewaltigen Schatten der Häcksel- und Schneidemaschinen wie Pygmäen wirkten. Oder sie standen auf Trittleitern und rührten wie auf einem ins Industriezeitalter verpflanzten Hieronymus-Bosch-Gemälde mit überdimensionalen Schöpfkellen in riesigen dampfenden Bottichen.(wird fortgesetzt)

Artikel vom 13.05.2006