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Tagebuch-Notizen aus einer bewegten Zeit

Kempowski und das Jahr nach dem Mauerfall

Von Hartmut Horstmann
Bielefeld (WB). Die verhasste Mauer war gefallen, und der aus Rostock stammende Autor Walter Kempowski hätte gute Gründe gehabt, es all seinen Kritikern zu zeigen.

Als Konservativer hatte er zuvor viel einstecken müssen - doch finden sich in Kempowskis soeben veröffentlichten Tagebuch-Aufzeichnungen von 1990 kaum Hinweise auf ein Triumphgefühl. Vielleicht liefert »Hamit«, der Titel der Publikation, eine Erklärung für den Verzicht auf Besserwisserei. Immerhin hatte der Literat, dessen bekanntester Roman »Tadellöser und Wolf« heißt, in der DDR Bekanntschaft mit dem Gefängnis in Bautzen gemacht.
»Hamit« bedeutet Heimat, und das Jahr 1990 beinhaltet für den Autor den Besuch seiner Heimatstadt Rostock. Kempowski lässt das Herzblut sprechen: »Immer bin ich in Rostock gewesen, auch in den Jahren der Trennung. Ich bin sogar soweit gegangen, sie in Papier nachzubauen. Vielleicht wäre mein Heimat-Drang gar nicht so stark gewesen, wenn man mich an einem Wiedersehen nicht gewaltsam gehindert hätte«?
Aus diesen Tagebuch-Eintragungen spricht eine tiefe Bewegtheit - sie mag die Abrechnung mit den von der Geschichte korrigierten Kritikern zweitrangig werden lassen. Der Gedanke an sie spielt keine Rolle, wenn es um die Heimat geht.
Gleichzeitig indes legt das Tagebuch Zeugnis ab von vielen Verletzungen. Da sind die üblen Plagiat-Vorwürfe eines Journalisten gegen Kempowski. Diverse Zeitgenossen hatten nachgelegt beziehungsweise -getreten und so ihre Unkenntnis hinsichtlich moderner Literatur (Montagetechnik) offenbart.
Einzelne Passagen wirken voller Selbstmitleid. Aber gerade diese unzensierte Weinerlichkeit trennt den ehrlichen Tagebuch-Schreiber Kempowski von dem Typus, der nur schreibt, um bei den Mitmenschen, der Nachwelt gut dazustehen.
Der Autor gewährt Einblicke in sein verletztes Seelenleben und hält eine Zeit fest, die zu den spannendsten im Deutschland nach 1945 zählt. Die alten Selbstverständlichkeiten sind zusammengebrochen, und die Linken schwenkten um. Kempowski jedoch konnte derjenige bleiben, der er war. Zu prognostizieren, dass sein Werk (nicht zuletzt das »Echolot«) die Zeitmoden überdauern wird, ist nicht schwer.
Walter Kempowski: Hamit. Tagebuch 1990. Albrecht Knaus-Verlag, München. 417 Seiten. 24,95 Euro

Artikel vom 07.04.2006