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Wenn die
Stimme
versagt

Bad Oeynhausener Klinik hilft

Von Thomas Albertsen
Bad Oeynhausen (WB). Manchmal war der Ost- und Westeuropa trennende »Eiserne Vorhang« durchlässiger, als man denkt. Wenn es dem medizinischen Fortschritt diente, erwiesen sich politische Grenzen zuweilen als zweitrangig.

Die Phoniatrie (Stimmheilkunde) wurde Anfang des 20. Jahrhunderts in Berlin und Wien entwickelt. Nach dem Weltkrieg bildete sich in Prag ein Schwerpunkt; fachlichen Austausch gab es auch zwischen Ost- und Westdeutschland. So war es der DDR-Mediziner Prof. Dr. Horst Gundermann, der am Neckar die erste westdeutsche Reha-Klinik für Phoniatrie gründete.
Heute gibt es vier Standorte: Neben Bad Rappenau wird in Bad Oeynhausen, Bad Gögging und Bissendorf eine qualifizierte Reha-Behandlung geboten. In Ostwestfalen ist die Phoniatrie Teil der Wicker-Klinik am Osterbach in Bad Oeynhausen. Das Haus widmet sich der Neurologie mit neurologischer Psychosomatik, der Psychotherapie und -traumatologie und der Stimmheilkunde - Bereiche, die ein enges Beziehungsgeflecht haben und daher kooperieren, wie Chefärztin Dr. Sabine Keßler erläutert.
In der Phoniatrie werden Sprech-, Schluck- und Stimmstörungen behandelt. Dabei wird zwischen funktionellen Störungen, die mit Räusperzwang, Heiserkeit oder Wegrutschen der Stimme einhergehen können, organischen Stimmstörungen, wie Stimmlippen-Lähmungen nach Schilddrüsen- und Kehlkopf-Operationen sowie psychischen Stimmstörungen durch seelische Belastungen, traumatische Erlebnisse wie sexuellem Missbrauch unterschieden.
Stimmgebendes Organ ist der Kehlkopf, Motor der Stimmgebung die Lunge. Der Kehlkopf ist ein selbstschwingendes System, welches im Bereich der Stimmbänder (medizinisch korrekt werden sie als Stimmlippen bezeichnet) so lange schwingt, wie die Ausatmungsluft fließt. Keßler: »Der Ton erhält durch die Funktion des Resonanzraumes, dem Luftraum oberhalb der Stimmlippen, seinen charakteristischen Klang, der uns gestattet, Menschen an ihrer Stimme zu erkennen.«
Neben Erkrankungen des Halses und der Lunge können eine unökonomische Atem- und Sprechtechnik, aber auch Alkohol und Zigaretten zu Stimmproblemen führen.
Die Stimme wird auch vom körpereigenen Gefühlsbewertungssystem beeinflusst. Keßler: »Wir hören es einer uns vertrauten Person ja schon beim Telefonieren an, ob sie traurig oder fröhlich ist, und das ganz unabhängig vom Inhalt der Worte.« Es reicht also nicht, druckentlastend an der Stimme zu arbeiten, sondern den ganzen Menschen zu erfassen, ihm zu innerem Gleichgewicht und Gelassenheit zu verhelfen.
Zwei Ärzte, drei Schwestern, drei Logopäden, ein Psychologe und ein Sozialpädagoge kümmern sich in Bad Oeynhausen unter Berücksichtigung ganzheitlicher medizinischer Betreuung um die Patienten. Sport und Physiotherapie helfen, muskuläre Körperspannung zu regulieren und damit die Basis für eine normale Stimmgebung zu erlangen. Aufgabe der Logopäden ist es, eine möglichst ökonomische Atem- und Stimmgebung zu erreichen. Verhaltenstherapeutische Gesprächstherapie hilft bei der Bewältigung von Stress-Situationen, die ebenso wie traumatisierende Erlebnisse der Vergangenheit dazu führen können, dass »die Stimme wegbleibt«.
So ist das Spektrum der Patienten breit gefächert: Es reicht vom Pastor, dessen Stimme knarrend klang und nicht mehr tragfähig war, über die Lehrerin, die nach einer Stimmlippenerkrankung ihre Stimme zu verlieren drohte, bis hin zu einer Büro-Angestellten, die auf der Weihnachtsfeier von ihrem Chef vergewaltigt und daraufhin »sprachlos« wurde, weil sich die Stimmlippen nicht mehr richtig schließen konnten. Dr. Sabine Keßler: »Die Stimme stellt als Kommunikationsmittel einen immer größeren Wirtschaftsfaktor dar. Und da muss man sich fragen, wie man es schafft, das durchschnittliche Pensionsalter der Lehrer, das derzeit bei 53 Jahren liegt, zu erhöhen.« Ein Versuch der Bad Oeynhausener Ärztin, bei den zuständigen Kultusministern eine Zertifizierung der Lehrer in Bezug auf Psychohygiene und Stimmschulung anzuregen, war indes ergebnislos.

Artikel vom 07.04.2006