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Unbemerkt stehe ich auf der Treppe, betrachte sie atemlos - bis sich plötzlich unsere Blicke treffen und wir augenblicklich in eine andere Welt hinübergleiten: eine Welt voll reiner, tiefer Leidenschaft, voll geistreicher Bonmots und kühner Taten, die gelegentlich gekrönt werden von einem gefühlvollen Monolog, wo alles seinen rechtmäßigen Platz hat und kein Dritter in den Kulissen darauf lauert, den Dialog zu ändern oder die Szene abzubrechen wegen einer VersteigerungÉ
Draußen zeigten sich die ersten Sterne, in deren orangepurpurnem Licht alle Dinge seltsam aufreizende Schatten warfen. Ich wandte den Blick zum Turm und hatte für einen Augenblick eine meiner Visionen - die von den herumtollenden Satyrn und dem Engel, der von der Spitze verstohlen nach unten schaut. Ich blinzelte, dann waren sie verschwunden. Was ich jetzt sah, war die entschieden unhalluzinatorische Gestalt von Mrs P, die von einem ihrer ziellosen Pilgergänge zurückkehrte, die sie so lieb gewonnen hatte. Für wen würde sie jetzt kochen? Ich nippte an meinem Gimlet. Und wer würde hier am Fenster stehen, hinausschauen und die Sterne zählenÉ?
Und dann ertönte die Glocke an der Haustür. Ich fuhr mir ein letztes Mal entschlossen durchs Haar, stürzte die Treppe hinunter, blieb auf halbem Weg stehen und verfolgte von dort, wie Mrs P aus dem Garten ins Haus und keuchend zur Tür eilte. Als sie öffnete und ein unvergleichliches Wesen ins Haus geleitete, umklammerte ich das GeländerÉ

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ofort war mir klar, dass mich nichts auf diesen Augenblick hätte vorbereiten können. Es war überwältigend, ja, besorgniserregend. Sie war schön, zugegeben, ausnehmend schön sogar. Zu sehen, wie sie sich in drei Dimensionen bewegte, war gleichwohl ziemlich schockierend. Meinem überhitzten Geist erschien ihre Körperlichkeit schamlos, nahezu grotesk: Sie glich weniger einem zum Leben erweckten Flaschengeist denn einer bunt bemalten Statue in irgendeinem Hausflur. Auch fiel mir unwillkürlich der eine oder andere Punkt auf, der von meiner Traumversion ihrer Ankunft abwich. Ihr leuchtendes Haar zum Beispiel war zu einem zweckmäßigen Pferdeschwanz zusammengebunden. Dann schien es da auch einige Verwirrung bezüglich der Frage zu geben, ob Mrs P ihr den Mantel abnehmen durfte. Und als sie ihn schließlich herausrückte, kam kein trägerloses Abendkleid zum Vorschein, sondern ein maskuliner Allerweltshosenanzug. Ich stand auf meinem Treppenplatz und fragte mich, ob ich nicht einen fürchterlichen Fehler gemacht hatte. Doch dann wandte sie mir ihre Augen zu, und alle Furcht und Sorgen waren ausgelöscht.

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ie soll ich sie beschreiben, diese unglaublichen Planeten, ohne in Klischees zu verfallen? Ich will nur sagen, dass ich in ihnen mein eigenes glanzvolles Leben nach dem Tode sah, eine gesegnete, fruchtbare nächste Welt, wo alltäglich Milch und Honig fließen würden. Und in meinem Herzen erwachte ein Lied. »Ich wette, du bist Charles«, sagte sie.
»Ganz recht«, sagte ich verlegen und schwebte auf einer kleinen Wolke die restlichen Stufen hinunter.

»Irgendwie hab ich gewusst, dass du groß bist«, sagte sie und hob selbstbewusst den Kopf. »Ich habÕs einfach gewusst.«
»Danke«, sagte ich errötend. »Na ja, nicht direkt groß, sagen wir, ein gutes Stück über mittelgroßÉ«
»Schätze, ich habÕs mir gedacht, weil Bel so groß ist«, sagte sie nachdenklich. »Für ein Mädchen, meine ich.«
»Ja, ja«, sagte ich, ohne zuzuhören - denn schon jetzt war klar, dass Worte zwischen uns entbehrlich sein würden, dass sich ihre wahre Bestimmung in den schwungvollen Bewegungen ihrer Hände, im Leuchten ihrer Haut erweisen würde.
»Also, wo sind die Vasen?«, fragte sie.
»Hier entlang«, sagte ich, nahm sie bei der Hand und führte sie ungeduldig ins umgestaltete Speisezimmer. »Ich habe noch ein paar andere KleinigkeitenÉ«
»Wow!« Sie errötete, während sie die schimmernde Kollektion auf sich wirken ließ. »Willst du nur die Vasen versichern lassen, oderÉ?« Hoffnungsfrohe Gier klang aus ihrer Stimme.
»Nun ja, alles, denke ich«, sagte ich leichthin.
»Wow!«, sagte sie wieder.
»Ich habe mir schon gedacht, dass dir das gefallen würde«, plapperte ich drauflos. »Die meiste Zeit steckt das alles in Kartons. Ich wollte schon lange, dass da mal einer Ordnung reinbringtÉ«
»Eine Bestandsaufnahme«, sagte sie leise.
»Bestandsaufnahme, richtig«, wiederholte ich seufzend.
»Eine Schätzung.« Ihre lieblichen Augen schweiften umher, verweilten da und dort.
»Ja, genau.«
»Ich frage mich, wie hoch die Deckungssumme sein müsste É Das muss ja ein Vermögen wert sein.«
»Das überlasse ich ganz dir. Na ja, ist eigentlich bloß Tand, Krimskrams halt É Schließlich gibt es im Leben Wichtigeres als Geld.«
»So darf man das nicht sehen, Charles«, sagte sie streng, drehte sich um und schaute mich an. »Sicher, niemand denkt gern an Feuer oder Diebstahl, und trotzdem passiert es doch jeden Tag, oder? Du bist verantwortlich für deine Wertsachen. Wenn du dich nicht darum kümmerst, wer dann?«
»Stimmt schon«, sagte ich und schaute sie zärtlich an. »Da hast du absolut Recht.« Bei bestimmten Bewegungen, aus bestimmten Blickwinkeln war ihre physische Attraktivität einfach atemberaubend. Wenn ich sie anschaute, konnte ich fast vergessen, was mir bevorstand. Die anfängliche Desorientierung hatte sich gegeben; ich war froh, dass ich sie hier bei mir hatte, eine Komplizin für diese letzte, sinnestäuschende Nacht, ein Mensch, der mir helfen würde, diese schweren Augenblicke, diesen so leidvollen Verlust an Reichtum in ein privates Karussell aus Licht, Frohsinn und Vergnügen zu verwandeln. »Aber das hat noch Zeit. Warum setzen wir uns nicht erst mal, essen zu Abend und lernen uns kennen.« Ich ging zur Tür und dämpfte das Licht. »Ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, einen rapport, ist wichtig bei solchen Dingen É Bitte, nimm doch Platz. Kann ich dir etwas zu trinken anbieten?«
»Ich weiß nicht, obÉ« Ihre Augen blitzten tückisch. »Also gut, hast du einen Le Piat dÕOr da?«
»Ich glaube, der ist uns gerade ausgegangen. Aber vielleicht möchtest du auch einen Gimlet? Wodka mit Limonensaft, sehr köstlich.« Ich klingelte, Zeit für die Entrées.
Mrs P hatte sich selbst übertroffen. Das Essen war grandios, berauschend, eine Rhapsodie. Jeder Gang eine Verführung, jedes Aroma wie ein auf den Gaumen herabschwebender Schleier Salomes. Abgesehen von einer Auster, die ihr im Hals stecken blieb, schien Laura jedoch ungerührt. Sie aß mechanisch, ohne darauf zu achten, was vor ihr auf dem Teller lag. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 25.03.2006