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Und doch, an gewissen Abenden hatte es den Anschein gehabt, als wären wir auf dem Sprung gewesen zu etwas ganzÉ
Ich schüttelte mich und war wieder da. Sie war jetzt in Indien; und wir beide waren wahrscheinlich so besser dran. Ich wählte eine Flasche aus und ging nach oben in die Küche. Man konnte leicht im Keller hängen bleiben. Wenn ich nicht aufpasste, geisterte ich Stunden da unten herum und ließ mich von Spinnweben einwickeln.
Inzwischen tat mir richtiggehend der Magen weh. Und Mrs P war immer noch unerlaubt entfernt. Das war lächerlich. Niemand konnte von mir erwarten, dass ich die ganze Nacht wartete. Im Fernsehen lief später ein Gene-Tierney-Double-Feature, auf das ich mich schon die ganze Woche freute. Ich beschloss, Mrs P eine Lektion zu erteilen und mir selbst was zu kochen.

D
ie Speisekammer bereitete zunächst einiges Kopfzerbrechen. Fisch musste man ausnehmen, Fleisch schneiden, Gemüse schälen, schnipseln, sautieren. Doch dann stieß ich zufällig auf eine Büchse Bohnen. Bohnen, sagte ich mir, da kann nichts schief gehen. Zusammen mit einer Tasse voll Reis schüttete ich sie in einen Topf. Ich wartete, bis sich über dem Wasser etwas Dampf zusammenbraute, schüttete die Flüssigkeit ab, kippte Bohnen und Reis auf einen Teller und trug mein Mahl ins Speisezimmer. Ich war mächtig stolz auf mich. Wenn man schnell aß und immer wieder mit Wein nachspülte, war es ganz genießbar. Ich dinierte allein, die melancholisch tickende Uhr und eine Motte, die stimmungsvoll um den Schirm der neben dem langen Mahagonitisch stehenden Stehlampe herumflatterte, wachten über mich.
Danach mixte ich mir einen Gimlet und ging zurück in den Salon zu meiner wiederhergestellten Chaiselongue.
Der erste Film des Double Features war der unbedeutende Heaven Can Wait, in dem Gene Tierney nur eine kleine Rolle als Don Ameches fromme Ehefrau hat. Danach lief der großartige Whirlpool von Otto Preminger. Ihre seltsame Mischung aus Anziehungskraft und Geistesabwesenheit kam darin aufs Beste zum Tragen. Gene passte zu Hollywoods Absichten, als hätte man sie auf einem Studiogelände in Burbank gezüchtet. Sie zog den Zuschauer im gleichen Maße in die Handlung, wie sie sich selbst aus ihr entfernte. Wenn sie wie eine Sirene, blasser und blasser werdend, schließlich ganz aus dem Film verschwand, hatte sie einen völlig in den Film hineingesogen. Man fand sich allein in dem Raum wieder, wo eigentlich sie sein sollte, in den Schatten und den Spinnweben von Premingers grausamer Konstruktion.
Ich schaue mir jede Menge alter Filme an, und seit ich sie zum ersten Mal gesehen habe, war Gene Tierney mein Lieblingsstar aus jener Ära der wahren Stars. Obwohl sie heute weitgehend vergessen ist, betrachtete man sie zu ihrer Zeit als die schönste Frau, die jemals die Leinwand beglückt hatte. Ihre Schönheit offenbarte sich in Form einer schwelenden, rein femininen Düsterkeit, ohne die beruhigende Maskulinität einer Bacall oder Frivolität einer Hayworth. Den Filmemachern schien das Angst einzujagen. Sie besetzten sie konsequent gegen ihren Typ, als dümmliche Hausfrau, als gutmütigen Dussel oder als Karikatur einer arabischen Prinzessin. Rollen, die darauf angelegt waren, die Furcht einflößende Kraft ihres Gesichts einzuschränken und herunterzuspielen und stattdessen die ihr eigene, tief sitzende Unsicherheit hervorzukehren. Selbst als sie sie schon liebten, beharrten Kritik und Filmindustrie einmütig darauf, dass sie nicht spielen konnte. (Zum Beispiel schrieb ein Kritiker über Whirlpool, in dem sie eine von einem skrupellosen Psychoanalytiker ausgenutzte Kleptomanin spielt: »Manchmal fällt es schwer, an Gene Tierneys Spiel abzulesen, ob sie unter Hypnose steht oder nicht.«) Der einzige Regisseur, der sie und das, was die Zuschauer in ihr sahen, zu verstehen schien, war Otto Preminger. In Laura, seinem und ihrem besten Film, ist sie die meiste Zeit tot, erscheint auf der Leinwand nur in Form eines Gemäldes oder in den Aussagen der Personen, die verdächtigt werden, sie umgebracht zu haben.
Ich hatte jedoch beide Filme schon vorher gesehen, sodass ich, ausgelaugt durch die Strapaze der Essenszubereitung, eindöste. Während ich schlief, hatte ich nicht zum ersten Mal in den letzten Monaten das merkwürdige Gefühl, dass auf irgendeine unerklärliche Weise der Film mich sah. Ich wurde gequält von üblen Träumen, von lockenden, vampirhaften Frauen, die ich aber nur unscharf erkennen konnte, und die sich schließlich in schreckliche Monster verwandelten, die mich mit zahnlosen Mäulern angrinsten und bedeutungsvoll auf einen breiten Kamin deuteten, auf dessen Sims Reihen von leeren Flaschen standen. Ich wurde geweckt von Stimmen, die von der Tür kamen, und von einem fremden, lähmenden Schmerz im Magen. Die Stimmen gehörten zu meiner Schwester und dem Wesen und hatten einen eindeutig romantischem Klang, doch war ich unfähig, mich zu erheben und einzuschreiten. »Genug«, rief ich matt, doch meine Stimme versagte, und alles drehte sich, während ich kraftlos und schweißgebadet dalag. Auf dem Bildschirm in der Ecke bewegten sich stumme Menschen in einer Art provisorischem Zeltlager - tausende und abertausende von weinenden und wehklagenden Menschen. In einem bei Übelkeit bisweilen auftretenden Augenblick von äußerster Klarheit nahm ich wahr, dass mein Cocktailglas nicht mehr auf dem Tisch stand. Mrs P war wieder da! Mit letzter Kraft zog ich an der Klingelschnur, von weither hörte ich das Bimmeln widerhallen, und dann wurde ich bewusstlos.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich in meinem Bett. Ich war ausgedörrt, der Schmerz wütete in meinen Eingeweiden. Die kleine Nachttischlampe beleuchtete zwei besorgte Gesichter, das meiner Schwester und das von Mrs P. Im Blick von Letzterer, so mein Eindruck, lag ein Hauch von Schuldbewusstsein; zweifellos war ihr klar, dass es im Grunde ihre Fahrlässigkeit gewesen war, die mich dazu getrieben hatte, mich zu vergiften. Ein drittes Gesicht, tumb und abwesend, gehörte zu Frank. Bel biss sich auf die Lippen, legte mir die Hand auf die Schulter und fragte, ob alles in Ordnung sei.
»Bohnen«, krächzte ich.
»Was?«, sagte sie.
»Ich glaube, er hat viele weiße Bohnen gegessen«, sagte Mrs P schaudernd. »Viele Bohnen, nicht gekocht.«
»Bohnen«, heulte ich wie von Sinnen.
»Um Himmels willen«, sagte Bel. »Charles, hör mir jetzt gut zu. Hast du die Bohnen vor dem Kochen eingeweicht?«
»Eingeweicht?«, sagte ich. »Natürlich nicht. Wovon redest du?«
»Was meinen Sie?«, sagte Bel zu Mrs P. Mrs P warf die Hände in die Luft, drehte sich um und redete aufgeregt Bosnisch. Oder was immer das war.
»Sie waren ziemlich hart«, sagte ich.
Frank zwinkerte mir zu. »Mordskater, was? Wie wärÕs mitÕm kleinen Kick zum Aufwachen?«
»Was?«, sagte ich, dann »oh«, als er einen Flachmann aus der Tasche zog. Der Gedanke, mit meinen Lippen etwas zu berühren, das er schon berührt hatte, widerte mich an. Aber ich hätte alles getan, um diese schrecklichen Schmerzen loszuwerden. Also riss ich mich zusammen und trank einen Schluck sehr billigen Whiskys. Und es funktionierte. Danach fühlte ich mich nicht mehr ganz so schlecht, zumindest so gut, dass ich Bel um ein Wort unter vier Augen bitten konnte.
»Charles«, sagte sie, setzte sich aufs Bett und tätschelte mir die Stirn. »Wann wirst du endlich lernen, dich nicht wie ein Idiot zu benehmen?«
»Ja, ja, schon gut«, blaffte ich sie an. »Erst will ich wissen, was hier gespielt wird?«
»Was hier gespielt wird? Wir sind nach Hause gekommen und haben dich auf dem Boden gefunden. Du hast dich in Krämpfen gewälzt, alsoÉ«
»Nicht das, verdammt. Dieser Kerl, Frank, was macht der hier?«
Bel lehnte sich zurück. »Was meinst du?«, sagte sie.
»Ich meine, dass ich den Burschen heute das erste Mal zu Gesicht bekomme, und schon bleibt er über Nacht. Nur weil Mutter weg ist, heißt das nicht, dass du aus unserm Haus ein É ein Bordell machen kannst.«
Bel lief puterrot an. »Was fällt dir ein?«, sagte sie kalt.
»Ich denke dabei nur an dich«, sagte ich. »Ich versuche dich von etwas abzuhalten, was du vielleicht bereuen könntest. Einer von uns muss ja schließlich einen kühlen Kopf bewahren.«
»Mach dir keine Sorgen, mein Kopf ist vollkommen kühl.«
»Ach ja, ist er das, trotz allem?«
Bel stand auf. »Was meinst du mit Ýtrotz allemÜ?«
»Ich meine, dass du nicht gut drauf bist. Das hast du selbst gesagt, Bel. Du fühlst dich einsam und bist sauer, weil du deine Freunde aus dem College nicht mehr um dich hast. Du bist schon den ganzen Sommer so. Das ist ja auch absolut verständlich. Aber irgendwann ist der Punkt erreicht, da muss man wieder eingreifen ins Leben und sich in den Griff kriegen. Tatsache ist, dass vereinsamte und todtraurige Menschen oft bei den falschen Leuten nach Hilfe suchen. Ihr Verstand ist benebelt, und deshalb treffen sie diese grässlichen FehlentscheidungenÉ«
Bel knirschte hörbar mit den Zähnen. »Wie kannst du es wagen, so was zu sagen, Charles, und dann auch noch davon auszugehen, du wüsstest, was ich fühle. Herrgott nochmal, wenn mich irgendetwas dazu treibt, Fehlentscheidungen zu treffen oder etwas zu tun, das ich mal bedauern könnte, dannÉ« (wird fortgesetzt)

Artikel vom 28.02.2006