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Die Wahrheit ist Lüge

»Maries Fest« ist ein Stück der Dreißiger-Generation

Von Wilhelm Friedemann
(Text und Foto)
Bad Oeynhausen (WB). Individualisierung, Kriegsangst, virtuelle Welten und Perspektivlosigkeit: Polle Wilbert (Björn Bicker) zeichnet in »Maries Fest« ein Bild von der heutigen Generation um die 30. Das Landestheater Detmold brachte das Stück nur zwei Wochen nach seiner Uraufführung auf die Bühne des Theaters im Park. Schade nur, dass so wenige Zuschauer um die 30 die Aufführung besuchten.

Vier junge Personen stehen regungslos auf der Bühne, blicken geradeaus und tupfen sich den Schweiß von der Stirn. Es ist ein heißer Sommertag. Vor ihnen befindet sich der zum Swimmingpool umgebaute Orchestergraben. Wenn sie miteinander sprechen, entpuppen sich die Dialoge als Texte, die auf Anrufbeantworter gesprochen wurden. Es sind Dialoge ohne direkten Gesprächspartner in einem virtuellen Teil unserer Welt.
In Wilberts Stück ist es Marie (Kerstin Hänel), die an ihrem 30. Geburtstag den Entschluss fasst, ihr Leben zu verändern. Marie ist Schauspielerin, kennt die Bühne und diverse Rollen, verspürt aber in sich den Drang, das wirkliche Leben kennen zu lernen, ein Vorhaben, dem - so soll sich am Ende des Stückes zeigen - sie nicht gewachsen ist.
Der 1969 geborene Dramatiker Polle Wilbert verknüpft die Bühnenhandlung mit Tondokumenten von Joschka Fischer, der den bevorstehenden Kriegseinsatz Deutschlands im Irak prophezeit, und von George Bush, der Statements zum Irak-Krieg abgibt. Die Verbreitung einer latenten Kriegsangst wird im Tragen eines T-Shirts mit der roten Aufschrift »Angst« visualisiert. Im Laufe des Stücks tragen es Maries drei Freunde Tom (Erik Voß), Sara (Nargis Zünbültas) und Fritz (Oliver Losehand). Kongenial gelangen Videoprojektionen über irakische Manöver auf die bestens durchdachte Bühnendekoration. Eindringlich führte dies dem Zuschauer vor Augen, dass dieser Krieg in einer globalisierten Welt zwar nicht weit weg, aber auch nicht direkt erfahrbar ist, sondern in Form von selektiertem Filmmaterial zugänglich wird.
Maries Sehnsucht nach Wirklichkeit wird jäh bestraft. Von ihrer Mutter Elfriede, von einer großartigen Gaby Blum gespielt, erfährt sie, dass sie nicht das leibliche Kind ihres verstorbenen Vaters ist. Wie im Grimmschen Märchen musste er sich zu Tode tanzen, als er seiner Frau zu alt wurde. Diese hält sich nun einen vom Krieg traumatisierten Bosnier (Valery Gross) als Sexsklaven. Als drastische Konsequenz wählt Wilbert den Muttermord Maries und die Erkenntnis »Die Wahrheit ist die Lüge!«.
Polle Wilbert gelang es mit »Maries Fest« aufzuzeigen, wo Ängste und Sehnsüchte in der heutigen Gesellschaft unbefriedigt bleiben. Die sechs Schauspieler des Landestheaters setzten sein Stück wirkungsvoll und identifikationsgerecht um.

Artikel vom 04.02.2006