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Tausende Ärzte protestieren:
»Das war erst der Anfang!«

Auch viele Mediziner aus Ostwestfalen-Lippe in Berlin - Praxen geschlossen

Berlin (dpa). Zum größten Ärzteprotest der vergangenen Jahre sind gestern allein in Berlin mehr als 20 000 Mediziner aus ganz Deutschland auf die Straße gegangen. Unter ihnen auch viele aus Ostwestfalen-Lippe.
Mehr als 1000 Ärzte aus Westfalen-Lippe nahmen am Protesttag in Berlin teil. Bereits bei der Abfahrt auf dem Hauptbahnhof Bielefeld kam es zu spontanen Aktionen der Mediziner. Foto: Hans-Werner Büscher
Die niedergelassenen Ärzte demonstrierten für bessere Arbeitsbedingungen und Bürokratieabbau. In vielen Regionen blieben die meisten Arztpraxen geschlossen. »Dies war erst der Anfang«, sagte Bundesärztekammerpräsident Jörg-Dietrich Hoppe zum Auftakt des Protestzugs zum Bundesgesundheitsministerium. »Wir wollen nicht länger auf dem Rücken unserer Patienten staatliche Rationierung durchführen müssen.«
Nach den Klinikärzten gingen damit erstmals seit Jahren wieder die niedergelassenen Ärzte auf die Barrikaden. Die Demonstration in Berlin war der Höhepunkt einer Protestwelle, die seit Beginn der Woche durch Deutschland rollt. Bis zum Nachmittag war bei Polizei und Ärzten von bundesweit mehr als 25 000 Demonstranten die Rede. Auf dem Münchener Marienplatz versammelten sich gut 2000 Menschen, in Freiburg protestierten etwa 3000 Mediziner. In Ostwestfalen-Lippe blieben etwa 80 Prozent der Praxen geschlossen. In Rheda-Wiedenbrück informierten niedergelassene Ärzte aus dem Südkreis Gütersloh vor dem Rathaus die Bürger über die Arbeitsbedingungen der Ärzte.
Notdienste sicherten die Versorgung, wo Praxen geschlossen blieben. Viele Ärzte warben mit Schildern am Praxiseingang um Ver-ständnis für den Protesttag. Tatsächlich erklärten neun von zehn Teilnehmern einer repräsentativen forsa-Umfrage, sie verstünden die Anliegen der Ärzte.
Zu viel Bürokratie, schwierige Arbeitsbedingungen, unbezahlte Mehrarbeit und allgemein eine zu geringe Vergütung sind die Kritikpunkte der Ärzte. Auch die Regelung, dass Kassenärzte beim Überschreiten ihres Budgets aus eigener Tasche zuzahlen sollen, stößt auf Widerstand. »Der Kuchen ist zu klein. Darum verhungern immer mehr Praxen«, sagte Hans-Peter Meuser (Freie Ärzteschaft). Vor allem in Ostdeutschland sei die Lage katastrophal.
Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) äußerte Verständnis für die Sorgen, warf den Ärzte-Funktionaren aber »manche verbale Übertreibung« vor. Verantwortlich für zu viel Bürokratie und eine teilweise ungerechte Honorar-Verteilung sei primär die Ärzte- Selbstverwaltung.
Auch die Unions-Gesundheitspolitiker Wolfgang Zöller und Annette Widmann-Mauz verwiesen darauf, dass »viele bürokratische Auflagen, über die im Praxisalltag zu Recht gestöhnt wird«, nicht durch den Gesetzgeber, sondern durch die eigene Selbstverwaltung verursacht würden. Gesetzliche Auflagen, die zu mehr Bürokratie führen - etwa Disease-Management- Programme oder Dokumentationspflichten - sollten aber entschlackt werden.
Der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle sicherte den Ärzten Unterstützung zu: »Wer den Ärzten die Luft abdrückt, trifft vor allem die Kranken.« Er forderte von der Bundesregierung, zügig die angekündigte Gesundheitsreform vorzulegen und damit mehr Wettbewerb unter den Krankenkassen zu ermöglichen.
Der Präsident der Ärztekammer Niedersachsen, Heyo Eckel, wies Vorwürfe zurück, die Ärzte wollten sich bereichern. Die Grünen im niedersächsischen Landtag hatten erklärt, die niedergelassenen Ärzte könnten nicht erwarten, dass ihr Einkommen vom Prozess der allgemein stagnierenden und teils sinkenden Löhne ausgenommen bleibe.
Helga Kühn-Mengel (SPD), die Patientenbeauftragte der Bundesregierung, gab in Berlin zu bedenken: »Die Mediziner liegen an der Spitze der Akademiker. Mehr verdienen die Apotheker und die Zahnärzte.«
Weiße Kittel, Mundschutz und Transparente mit Sätzen wie »Alle Spritzen stehen still, wenn unser starker Arm das will« dominierten das Bild des Protestzuges, der mit Trillerpfeifen und Tröten zum Ministerium in Berlin zog. In München hatten sich Demonstranten Lebkuchenherzen umgehängt, in Zuckerguss-Lettern war zu lesen: »Ulla ist herzlos« und »Erst stirbt die Praxis, dann der Patient«.

Artikel vom 19.01.2006