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Luise Pahlsbröker hatte Anna mal diese Geschichte vom kleinen Bruder erzählt, als sie zusammen in den Diemen ausruhten von ihren Sprüngen aus den hochgetürmten Garben ins weiche Stroh hinunter. Luise Pahlsbröker war die Tochter vom großen Bauern in Hilverdingsen; wenn sie nachmittags keine Schule hatte, durfte sie mit Anna spielen. Dann bekam sie ein schwarzes Samtband um den flachsblonden Kopf gebunden, und wenn Anna sie mit ins Haus nahm, schlüpfte sie vor der Türe ganz vorsichtig aus ihren klapprigen Holschen und zog verlegen mit einem kleinen lauten Ruck die Luft durch das aufwärtsstrebende Näschen. Und im Hause sprach sie fast kein Wort, sondern guckte nur immer wieder feierlich und andachtsvoll an den Wänden hoch.
Draußen in den Diemen fühlte sie sich freier, da mußte es sogar manchmal nach ihrem Willen gehen. Da erzählte sie auch was. Aber immer nur artige Geschichten, nicht wie die andern Kinder auf dem Schulweg redeten. Mit Anna durfte man nur »wacker küren«, die war ja die Tochter von der Gutsherrschaft.
Aber die Geschichte vom kleinen Bruder hatte sie ihr doch mal erzählt, ganz leise, und wenn es geheimnisvoll wurde, redete sie platt. Manchmal mußte sie auch eine lange Pause machen und an einem Strohhalm abbeißen, bis sie wieder weiter wußte - so genau hatte sie ja selbst nicht alles verstanden. Aber dies war die Geschichte, die sie meinte:

H
auptmann Helhusen hatte einen vierjährigen Sohn, als er bei dem 10. Artillerieregiment in Hannover den Abschied einreichte, um nach dem Tode seines ältesten Bruders, des eigentlichen Erben, das Familiengut zu übernehmen. Es war ihm nicht leicht geworden, die militärische Laufbahn zu verlassen, und Frau Sophie krankte an Heimweh nach ihrer Vaterstadt. Nur der kleine vierjährige Friedrich gab sich ohne Einwand den Reizen dieses neuen Lebens hin. Er kannte bald Höfe und Ställe mit ihren unaufgeklärten Schlupfwinkeln und beteiligte sich stets mit irgendeinem großen Besen oder Harken an der Arbeit. Die Kötter und Knechte waren stolz auf den »wackern lütten Jungen«; aber wenn er so um sie hantierte, schielten sie oft mit ängstlicher Fürsorge auf ihn und sahen sich wohl kopfschüttelnd an, als verständigten sie sich auf ihre stumme Weise über irgendein Geheimnis, das niemand laut zu nennen wagte.

E
ines unglücksvollen Tages erfuhr Frau Sophie Helhusen von diesem Geheimnis; als sie an einem warmen Sommernachmittag mit ihrer Näharbeit im Garten saß, unter der großen Linde, während Friedrich sein Pferd über die holprigen Wurzeln zog. Da kam sie ins Gespräch mit der alten Arbeiterfrau, die den Weg harkte. Sie wäre »nich ganz richtig inÕn Koppe« hieß es von ihr, aber sie wußte immer sehr viel zu sagen. Frau Sophie hörte sie freundlich an. Was sollte nur ihre geballte Faust, mit der sie den alten Baum androhte? »Was meint sie denn?« fragte sie lächelnd den jungen Gärtner.
»Och, sie meint« - er klammerte sich verlegen an seinen Hut in der Hand - »sie meint, wenn die Linde man damals vonÕn Blitze verbrannt worden wäre, weil die sollte Schuld sein wegen den Tod von Herrn Albrecht.« Und als Frau Sophie weiter fragte, erklärte er in vertraulichem Tone - als habe er selbst nichts zu schaffen mit den Geheimnissen, die der Pastor meint, wenn er im Zorn über die Kinder des Teufels Sonntags auf die Kanzel schlägt - aber er wurde doch dunkelrot, als er es sagte: »Die Leute glauben, wenn auf einem Hofe fünf Linden stehen, die über hundert Jahre alt sind, denn müßte der Erstgeborene sterben.« Damals vor vier Jahren, als der Blitz in diese Linde gefahren sei, hätten sie nachgezählt, und es wären gerade fünf gewesen; und der Blitz sollte wohl eine Warnung sein, daß nun alle über hundert Jahre stünden.
»Das war ja alle auseinandergehauen«, zeigte er hinauf, »die ganzen Äste kurz und klein bis unten hin, aber dann haben se die sieben Ketten drumgemacht, und nu weiß der Baum da nix mehr von, ich will auch nich sagen«, fügte er entschuldigend hinzu, »es wäre auch schade drum gewesen, er wird immerhin noch alle Jahre grün, je nach seinem Blattvermögen.«

F
rau Sophie war wieder und wieder durch die Höfe gegangen und hatte sich davon überzeugen müssen, daß es wirklich fünf alte Linden waren, die innerhalb der niedern Weißdornhecke hie und da vereinzelt standen. Es nützte nichts, daß sie, wie der Gärtner, diese Geschichte aus ihren Gedanken schob; sie kam immer wieder, besonders abends, wenn der Mond die dunklen Baumkronen mit hinab auf den trüben Teichspiegel zog, und nachts, wenn der Nebel aus den Wiesen heranschlich und traurige, schwere Träume mitbrachte.
Sie erzählte ihrem Mann, was sie gehört hatte, und sie bat ihn, er solle doch die alte Linde schlagen lassen. Aber der wurde ärgerlich und schalt über den törichten Aberglauben. Sie widersprach und fing an zu weinen. Sie wußte doch, daß er das nicht leiden konnte. Und es kam der Jähzorn über ihn, der sich in der Familie Helhusen vererbt hatte. Er herrschte sie an und beleidigte sie. Da wurde sie still und sprach nie mehr ein Wort über die fünf Linden. Aber es war, als hätte Frau Sophie das Schicksal zur Rechenschaft gezogen, als wollte sie nicht mit dem höchsten Preise sparen, um ihm zu vergelten, daß er sie beleidigt hatte.

E
in Jahr später starb der kleine Friedrich bei einer Scharlachepidemie. »Nun kann er ihm den Sarg aus den Brettern schneiden«, dachte Frau Sophie trotz ihres Schmerzes um den kleinen Jungen, denn das böse Gift war in ihrer Seele geblieben. Es nützte nichts, daß ihr Mann wie ein Verbrecher sich anklagte und verzweifelt an dem Totenbettchen weinte.
Hätte sie ihn doch jetzt in die Arme genommen und wäre mit ihm traurig gewesen, dann wäre es wohl wieder gut zwischen ihnen geworden. Aber sie sah ihn mit harten Augen an; sie hatte ja die Liebe vergessen. Darum blieb sie totgeschwiegen auf Brakenhorst all die kommenden Jahre.
Wenn die kleine Anna auch noch nicht gewußt hatte, was Luise Pahlsbröker ihr von den fünf Linden erzählte, so fiel ihr doch vieles ein, was zu dieser Geschichte gehören mochte; aber davon schwieg sie still. Sie fragte nur einmal mit einem bangen, fröstligen Zusammenkauern: »Du, Luise, tut der Wind bei euch auch so, abends in den Bäumen?« Luise sagte: »Das soll er woll; da weiß ich nix von.«
Ach welch ein Erschrecken war es, wenn Anna an dem großen zornigen Winde aufwachte, der vor den Tannen stand und sie schlug, daß sie sich krümmten und wimmerten vor Schmerz. Welch quälender Gedanke, daß diese Tannen einmal müde wurden und ihn durchließen. Oft faßte er ja schon nach den Fenstern. Dann versteckte Anna den Kopf tief in die Kissen, daß sie nicht mehr sein Gesicht zu sehen brauchte - sie wußte genau wie es aussah - es war ja der Teufel, von dem Pastor Spengemann in der Kirche sprach, wenn er die Lippen hochzog, daß man seine breiten Zähne sah. Und dann flüsterte Anna ganz schnell, so schnell ihr kleines Herz schlug, ein Gebet und horchte wieder lange hin, ob der Wind ruhiger würde.

D
ie Türe zu der Eltern Schlafstube stand offen; sie hätte nur ganz leise zu rufen brauchen - warum kam es ihr doch nie in den Sinn, daß sie hätte rufen können?
Es war ja auch nicht nur der Wind, an dem sie aufwachte. Manchmal waren es erregte Worte aus dem Nebenzimmer. Sie verstand sie nicht, aber die Stimmen taten so weh in ihrem harten, unversöhnlichen Mißklang. Dann vergaß Anna sogar, zum lieben Gott zu beten; und es wäre doch die einzige Beruhigung gewesen, das schlummerheiße Köpfchen in einen großen, liebevollen Arm zu ducken, statt so ganz allein mit einem dunklen Traum wieder aus dem Tore wandern zu müssen und irgendwo zu bleiben, wo es dem Traume gefiel.

Drittes Kapitel
Woher sollte Anna Helhusen von der Liebe wissen, wenn ihre eigne Mutter sie vergessen hatte?
Vetter Erli war zu klein und wußte selbst nichts davon. Er hatte auch immer eine ganz leise Ehrfurcht vor Anna, obgleich er in der Rechenstunde bei Herrn Kandidat Busse viel schneller war und obgleich er sie mit einem Griff in den Teich werfen konnte (das tat er natürlich nie; er zeigte nur manchmal, daß er es konnte; wenn Anna dann dabei aus Versehen in den Schlamm rutschte, war es nicht seine Schuld).

H
err Kandidat Busse ging abends oft in den Ellernbusch und sang von der Liebe, das Lied mit dem unvergleichlich rührenden, stets wiederkehrenden Schlußvers: »Möchtest du nur glücklich sein, glücklich hier auf Erden.« Oder sein Waldhorn klang über die Heide: »Behüt dich Gott, es wär so schon gewesen.« Aber dann schlief Anna schon; und morgens in der Schulstube, wenn er den beiden gegenübersaß, mit dem allwissenden Lächeln, versank alles im Eifer seiner gottesfürchtigen Stimme, ob er nun eine biblische Geschichte erzählte oder ob er unheilvolle Zahlen erfand, die bei Anna doch nie zusammenpaßten.

A
ls Anna ganz klein war, hatte sie ein Kindermädchen: Karoline Grundmann. Die wußte von der Liebe. Ihr Vater war ein großer Bauer mit einem reichen Hof; was ging den Karolines Liebe an? (wird fortgesetzt)

Artikel vom 24.01.2006