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Er schlief in seinem Arbeitszimmer und fuhr am Wochenende weg. Keine Ausflüge mehr in dem alten grauen Jaguar nach Salzburg oder Rom, keine Casinos mehr und keine Picknicks am Strand. Und dann, eines Morgens, war er wohl müde geworden, denke ich mir. Sehr, sehr müde, und fiel von einem hohen Gebäude...«
»Fiel oder sprang?«
»Er war ein eleganter Mann, er ist gefallen. Er war Versicherungsangestellter und wegen irgendwelcher Entlüftungsschächte oder weiß der Kuckuck was auf dem Dach eines Turms unterwegs, hat seine Akte aufgeschlagen und nicht darauf geachtet, wohin er die Füße setzt...«
»Verrückt, diese Geschichte. Wie denkst du darüber?«
»Ich denke gar nichts. Dann kam die Beerdigung, und meine Mutter hat sich ständig umgedreht, um festzustellen, ob die andere Frau hinten in der Kapelle sitzt... Dann hat sie den Jaguar verkauft, und ich habe aufgehört zu reden.«
»Für wie lange?«
»Monate.«
»Und dann? Kann ich die Decke etwas runterziehen, ich ersticke gleich.«
»Ich bin auch erstickt. Aus mir wurde ein undankbares, einsames junges Mädchen, ich hatte die Nummer des Krankenhauses im Telefon gespeichert, aber ich habe sie nicht mehr gebraucht. Sie hatte sich beruhigt. Sie war jetzt nicht mehr selbstmordgefährdet, sondern depressiv. Ein Fortschritt. So war es ruhiger. Ein Toter reichte ihr wohl. Dann hatte ich nur noch eins im Kopf: abhauen. Mit siebzehn bin ich zum ersten Mal ausgebüxt und bei einer Freundin untergeschlüpft. Eines Abends, rums, standen meine Mutter und die Bullen vor der Tür. Dabei wußte sie genau, wo ich war, dieses Weib. Das war kraß, wie man heute sagen würde. Wir saßen gerade beim Abendessen, meine Freundin, ihre Eltern und ich, und unterhielten uns, soweit ich weiß, über den Algerienkrieg. Dann klopf, klopf die Bullen. Mir war das superpeinlich gegenüber diesen Leuten, aber nun gut, ich wollte keine Scherereien machen, also bin ich mitgegangen... Am 17. Februar bin ich achtzehn geworden, um eine Minute nach Mitternacht habe ich mich verdrückt und die Tür ganz leise hinter mir zugezogen. Ich habe mein Abi gemacht und dann an der Kunsthochschule angefangen. Als vierte von siebzig Zugelassenen. Nach den Opern meiner Kindheit hatte ich eine phantastische Mappe zusammengestellt. Ich hatte geschuftet wie ein Tier und bekam die Glückwünsche der Jury. Damals hatte ich keinen Kontakt mehr zu meiner Mutter und habe mich irrsinnig abgerackert, weil das Leben in Paris zu teuer war. Ich wohnte mal hier, mal dort und habe viele Stunden geschwänzt. Ich habe die Theorie geschwänzt und bin ins Atelier gegangen, und dann hab ich Scheiße gebaut... Auf der einen Seite habe ich mich gelangweilt, habe das Spiel nicht mitgespielt: Ich habe mich nicht ernst genommen und wurde folglich auch nicht ernst genommen. Ich war keine echte Künstlerin, ich war eine gute Handwerkerin, der man eher die Place du Tertre auf dem Montmartre empfiehlt, um Monet und die kleinen Tänzerinnen hinzuschmieren... Und außerdem... eh... hab ich nichts begriffen. Ich habe lieber gemalt, als mir das Geblubber der Profs anzuhören, ich habe Porträts von ihnen gemacht, und ihre Vorstellung von Ýbildender KunstÜ, von Happenings und Installationen hat mich angeödet. Ich habe schnell gemerkt, daß ich mich im Jahrhundert geirrt hatte. Ich hätte gern im 16. oder 17. Jahrhundert gelebt und wäre im Atelier eines großen Meisters in die Lehre gegangen... Hätte seine Grundierungen vorbereitet, seine Pinsel gereinigt und für ihn die Farben angerieben... Vielleicht war ich nicht reif genug? Oder hatte kein Selbstbewußtsein? Oder war schlicht nicht besessen genug? Ich weiß es nicht... Auf der anderen Seite habe ich eine Bekanntschaft gemacht, die mir nicht gutgetan hat. Eine simple Geschichte: Junge Schnepfe mit ihren Pastelldöschen und schön gefalteten Läppchen verliebt sich in das verkannte Genie. Den Verstoßenen, den Prinz mit dem Kopf in den Wolken, den Trauernden, den Undurchsichtigen, den Untröstlichen... Das volle Klischee: Langhaarig, gequält, genial, leidend, lechzend... Argentinischer Vater, ungarische Mutter, explosive Mischung, hochgebildet, wohnte in einem besetzten Haus und hatte nur auf sie gewartet: ein verrücktes Huhn, das ihn bekochte, während er unter schrecklichen Qualen schöpferisch tätig war... Das habe ich richtig gut hingekriegt. Ich bin zum Markt von Saint-Pierre gegangen, habe meterlange Stoffbahnen an die Wände geheftet, um unser ÝKämmerleinÜ schön ÝschmuckÜ zu gestalten, und habe mir Arbeit gesucht, um den Herd am Brennen zu halten... Wobei, den Herd... eh... den kleinen Gaskocher eher... Ich habe das Studium sausen lassen und mich im Schneidersitz hingesetzt, um darüber nachzudenken, was ich mal werden könnte... Und das Schlimmste, ich war stolz darauf! Ich habe ihm beim Malen zugeschaut und mich wichtig gefühlt... Ich war die Schwester, die Muse, die Grande Dame hinter dem Grand Homme, die die Weinkanister wieder aufstellte, die Jünger ernährte und die Aschenbecher leerte...«
Sie lachte.
»Ich war stolz und bin Museumswärterin geworden, superschlau, oder? Gut, ich erspar dir die Kollegen, ich habe allen Größen im Staatsdienst die Hand gereicht, aber... Es war mir eigentlich schnurzegal... Es ging mir gut. Endlich war ich im Atelier meines großen Meisters... Die Leinwände waren schon lange getrocknet, aber ich habe dort bestimmt mehr gelernt als in allen Schulen der Welt... Und da ich damals nicht viel schlief, konnte ich ruhig vor mich hindösen... Ich wärmte mich auf... Das Problem war, daß ich nicht malen durfte... Nicht mal in ein klitzekleines Heftchen, nicht mal, wenn kein Mensch da war, und Gott weiß, wie wenig Leute an manchen Tagen vorbeikamen, es war dennoch nichts anderes erlaubt, als über das Schicksal nachzugrübeln, zusammenzufahren, wenn ich die quietschenden Schuhsohlen eines verirrten Besuchers hörte, meine Sachen in Windeseile wegzupacken, wenn das Plingpling seines Schlüsselbunds zu hören war... Am Ende war es Séraphin Ticos liebster Zeitvertreib geworden - Séraphin Tico, ich liebe diesen Namen -, sich leise anzuschleichen und mich in flagranti zu erwischen. Ah! Was hat er sich gefreut, der Idiot, wenn er mich zwang, meinen Stift wegzupacken! Aber wenn ich zusammenzuckte, habe ich mich bewegt, und das hat mich echt genervt. Wie viele Skizzen seinetwegen in die Hose gingen... Nein! So ging es nicht weiter! Deshalb hab ich das Spielchen mitgespielt... Die Lehrjahre trugen allmählich Früchte: Ich bestach ihn.«
»Pardon?«
»Ich bezahlte ihn. Ich fragte ihn, wieviel er haben will, um mich in Ruhe arbeiten zu lassen... Dreißig Franc am Tag? Schön... Der Preis für eine Stunde Pennen im Warmen? Gut... Ich habe sie ihm gegeben...«
»Du meine Fresse...«
»Ja, der große Séraphin Tico«, fügte sie verträumt hinzu, »jetzt, wo wir den Rolli haben, werde ich demnächst mal mit Paulette bei ihm vorbeischauen.«
»Warum?«
»Weil ich ihn gerne mochte. Er war ein ehrlicher Gauner. Nicht wie der andere Blödmann, der mich nach einem Arbeitstag mit Stinklaune empfing, weil ich vergessen hatte, Kippen zu kaufen. Und ich, blöd wie ich bin, bin wieder losgezogen.«
»Warum bist du bei ihm geblieben?«
»Weil ich ihn geliebt habe. Ich habe auch seine Arbeiten bewundert. Er war frei, ohne Komplexe, selbstsicher, anspruchsvoll. Das genaue Gegenteil von mir. Er wäre lieber mit offenem Mund verreckt, als den geringsten Kompromiß einzugehen. Ich war gerade mal zwanzig, ich habe ihn ausgehalten und fand ihn bewundernswert.«
»Ganz schön dämlich.«
»Ja... Nein... Nach der Kindheit, die ich hinter mir hatte, war es das Beste, was mir passieren konnte. Es war immer jemand da, es wurde nur über Kunst gesprochen, über Malerei. Wir waren albern, klar, aber auch redlich. Wir lebten zu sechst von zweimal Arbeitslosenhilfe, wir froren uns einen ab und standen an öffentlichen Bädern Schlange, aber wir hatten das Gefühl, besser zu leben als die anderen. Und so grotesk es einem heute auch vorkommen mag, ich glaube, wir hatten recht. Wir hatten eine gemeinsame Leidenschaft. Was für ein Luxus. Ich war dämlich und glücklich. Wenn ich einen Saal über hatte, tauschte ich, und wenn ich nicht gerade die Zigaretten vergaß, wurde gefeiert! Wir haben auch viel getrunken. Ich habe mir ein paar schlechte Angewohnheiten zugelegt. Und dann habe ich die Kesslers kennengelernt, von denen ich dir neulich erzählt habe.«
»Er war bestimmt eine heiße Nummer«, sagte er und zog eine Grimasse.
Sie gurrte:
»Na klar... Die beste der Welt. Ah... Schon beim Gedanken daran kriege ich überall Gänsehaut, hier...«
»Ja, ja, alles klar. Hab schon kapiert.«
»Nein«, seufzte sie, »so toll war es nicht. Nachdem sich die erste post-jüngferliche Erregung gelegt hatte, habe ich... ich... na ja... Er war ein ziemlicher Egoist...«
»Aaah.«
»Jaa, eh... Da kannst du ja eigentlich auch schon ganz gut mithalten.«
»Ja, aber ich rauche nicht!«
Sie lächelten sich im Dunkeln zu.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 02.01.2006