24.12.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

»Wenn ich groß bin, möchte ich Weihnachtsfrau werden«

SOS-Kinderdorf strahlt aus - Wenn die Oma Papa und Mama sein muss

Von Reinhard Brockmann
Bielefeld (WB). »Lieber Weihnachtsmann, ich war so aufgeregt, als ich das erste Mal deinen schönen Namen hörte. Als ich dich im Fernsehen sah, als du den Kindern in Europa Spielzeug gabst, war ich begeistert. Mein einziger Wunsch ist, dass du nach Afrika kommst.«

Die Briefschreiberin, das Mädchen Comfort, lebt im SOS-Kinderdorf Bakoteh in Gambia. Mit 13 in Afrika ist niemand mehr richtig Kind. Jungen und Mädchen müssen gewitzt sein wie richtige Erwachsene und schon mal vorsorgen. Wohl deshalb endet der Wunschzettel des Teenagers: »Wenn ich groß bin, möchte ich Weihnachtsfrau werden.«
Da ist der 14-jährige Moussa aus Niamey in Niger. Seine Eltern sind beide innerhalb von sechs Monaten an Aids gestorben. »Ich hatte keine Hoffnung, dieses Jahr in die Schule gehen zu können, weil da niemand war, der meine Schulgebühren zahlen würde«, erzählt uns der Vollwaise. Er lebt jetzt bei den Großeltern mit den anderen fünf Geschwistern.
Einen Platz im SOS-Kinderdorf benötigt er noch nicht und, wenn es gut geht, niemals. Aber »SOS-Kinderdorf« ist wesentlich mehr, als der Name vermuten lässt. Die »Dörfer« strahlen als Sozialstationen auf ihre Umgebung aus. Auf dem schwarzen Kontinent gibt es inzwischen 57 SOS-Zentren und -programme, die von HIV/Aids-betroffene Kinder betreuen. Bis Ende 2007 sollen 21 weitere hinzukommen.
Moussa bekommt nicht einfach sein Schulgeld überwiesen, sondern profitiert von einem durchdachten Unterstützungsplan. Er wird vermutlich nur drei Jahre Geld erhalten, dann aber ein Angebot zum Selbstverdienen bekommen. Das ist Moussas große Chance, vermutlich seine einzige.
Wolfgang Kehl aus der Zentrale in München: »Schwerpunktgebiete sind das gesamte südliche Afrika, die west- und zentralafrikanische Region und Ostafrika sowie einige Länder in Osteuropa.« Insgesamt werden in Afrika 23 500 Kinder und Jugendliche, die in irgendeiner Form von Aids betroffen sind, betreut. In Südafrika, wo soeben mit Spenden auch von Lesern dieser Zeitung das siebte SOS-Kinderdorf gebaut wird, leben in Familiengruppen jeweils gut 100 Kinder. In der Umgebung herum werden meist weitere 200, in Nelspruit sogar 1000 von Aids betroffene Kinder erreicht.
»Wir schauen uns gefährdete Familien sehr genau an«, berichtete Evelyn Winkler dem WESTFALEN-BLATT am Freitag aus Johannesburg. Sofern die HIV-positiven Eltern noch leben, vielleicht sogar mit Medikamenten eine Perspektive erhalten, werden die Familienverbände gestärkt. Gibt es nur noch eine Großmutter, wird Ausschau nach Tanten oder nahestehenden Nachbarn gehalten. SOS hilft mit Lebensmitteln, Schuluniformen, Büchern oder auch Tipps, wie aus dem großen Garten Produkte zum Verkauf gewonnen werden können.
Ganz wichtig, so erzählt die engagierte Lehrerin aus Innsbruck, sind die überall gebildeten Unterstützerkreise. Dort wird - wie überall in Afrika - gelacht und geklatscht, aber auch medizinisch aufgeklärt und über Ernstes gesprochen: Wie es weitergeht, wenn die Eltern schwächer werden und sterben müssen. Theater und Tanzgruppen helfen dabei, das größten Drama, das Afrika derzeit durchleidet, zu bewältigen.
In den Ländern südlich der Sahara leben nur 10 Prozent der Weltbevölkerung, gleichzeitig sind hier mehr als 65 Prozent aller weltweit mit HIV infizierten Menschen beheimatet. In Ostafrika gibt es erste Anzeichen für einen Rückgang der Infektionen. In ganz Afrika sind 7,4 Prozent HIV-positiv, während es in Südafrika 21,5 Prozent sind.
Und wie erklärt man einem Kind, dass seine Eltern eines Tages sterben müssen? Evelyn Winkler sagt, dass es keinen Schonraum mehr gibt. »Jedes Kindergartenkind in Afrika weiß, was Aids ist.«

Artikel vom 24.12.2005