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Deutschland von China aus
betrachtet...

Lars Mracek ist auf Heimaturlaub

Von Michael Diekmann
und Carsten Borgmeier (Foto)
Bielefeld (WB). »Deutschland ist ein Superland, aber wir reden uns hier um Kopf und Kragen, nutzen die unglaublichen Möglichkeiten gar nicht aus«, findet Lars Mracek (28). Der gelernte Elektroniker hat sein Glück im boomenden China gemacht, ist gerade auf Heimaturlaub bei den Eltern im Ortsteil Schildesche.

»Vielleicht muss man erst länger im Ausland leben, um die Vorzüge seiner Heimat zu erkennen und zu verstehen«, betont der Bielefelder und schwärmt von dem TV-Spot »Wir sind Deutschland«: »Ich finde ihn klasse. Man muss ihn eben aus einem ganz speziellen Blickwinkel sehen.« Mracek hat auch so einen speziellen Blickwinkel: Wenn er im elften Stock des Prestige Tower im ostchinesischen Shenzhen sitzt, ziert den Bildschirmhintergrund seines Computers die Sparrenburg mit den wehenden drei roten Sparren.
In der boomenden Metropole unweit von Hongkong, in der offiziell sechs Millionen Chinesen registriert sind (nach unbestätigten Angaben aber wohl knapp 12 Millionen leben), hat sich Lars Mracek vor einem Jahr mit seiner Geschäftsidee verwirklicht: »Ich habe mich mit meiner Situation in Deutschland nicht abgefunden, lieber etwas neues versucht im Ausland.« Zugegeben, Vater Werner und Mutter Annemette waren zunächst skeptisch, ja sogar ängstlich. Inzwischen haben sie ihren Sohn ebenso vor Ort in China besucht wie Bruder Boris (23). Der studiert Wirtschaftsingenieurwesen in Deutschland, hat aber bereits Shenzhen erkundet und neben gläsernen Türmen auch alte Hinterhöfe besucht.
Vor zwei Jahren war Lars Mracek in Bielefeld arbeitslos geworden. Ein Jahr später gründete er eine Ich-AG. Seither ist Mracek sein eigener Chef. Und für viele Firmen in Europa ein wichtiger Ansprechpartner, wenn es um den Bereich der Mikroelektronik geht. Mraceks Firma »Mertex«, die natürlich auch im weltweiten Internet präsent ist, handelt mit Schaltungen und Elektronikbausteinen, vermittelt aber auch Produktionsstätten als Zulieferer für produzierendes Gewerbe in Europa. Mracek sieht sich selbst als eine Art Vermittlungsagentur, aber auch als wichtiges Verbindungselement in Sachen Qualitätssicherung. Der Mann vor Ort in China koordiniert und organisiert auch kleinste Serien und sorgt als Bindeglied zwischen Handel und Produkton für die komplette Abwicklung des Auftrages. Und dabei hatte alles nur mit dem Bau eines einzelnen Mikroprozessors für einen Bielefelder Kunden begonnen.
Seit einem knappen Jahr ist Mracek jetzt in Shenzhen zuhause, hat sich längst arrangiert mit den lebensgefährlichen Verkehrszuständen, mit den anderen Essgewohnheiten, schätzt aber auch das warme Klima und schaut fasziniert auf den ungebrochenen Boom, der Hochhäuser in kürzester Zeit aus der Erde schießen lässt, aber auch auf desolate Umweltstandarts. Aus seiner Wohnung, möbliert gemietet, fällt der Blick direkt auf das höchste Haus der Stadt, von den Einheimischen »Großer Vogel« genannt. Nur wenige Straßen entfernt gibt es noch das alte China, mit Straßenhandel in verwinkelten Gassen, in denen aber auch alles an Waren auf dem Fahrrad transportiert wird.
»Für Ausländer ist der Lebensstandart sehr hoch«, erzählt Mracek. Mit seinen blonden Haaren, die ihn auf den ersten Blick als Europäer erkennbar machen, kommt dem Gast zudem ein Extra-Bonus zu. Und getragen wird er von dem wirtschaftlichen Aufschwung, der unweit der einstigen Kronkolonie Hongkong das Reich der Mitte wie ein Flächenbrand von der Küste aus Stück für Stück ins Inland vordringt. Auch wenn die Not vieler einfacher Arbeiter groß ist, analysiert Mracek, könne man in Deutschland von China lernen: Nicht immer negativ denken, die ungeheuren Chancen erkennen und konsequent nutzen, getreu dem Motto, selbst seines Glückes Schmied zu sein.
Was das für den gebürtigen Bielefelder im Alltag bedeutet, schildert er mit dem Ablauf eines normalen Geschäftstages: Nach dem Arbeitstag nach chinesischer Zeit kann man vom Abend bis in die Nacht Kunden in Deutschland erreichen, von der Nacht bis in den frühen Morgen die Amerikaner. Mracek: »Wer will, kann im boomenden Shenzhen 24 Stunden rund um die Uhr Business machen.« Der Schildescher selbst liebt es an Weihnachten lieber besinnlich. Zusammen mit den Eltern verbringt er das Fest in Norwegen im Schnee.

Artikel vom 24.12.2005