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Barney Clarke spielt in der Polanski-Verfilmung den »Oliver Twist«

Sehr erwachsener Kinderfilm

Roman Polanski bringt »Oliver Twist« auf die Leinwand


»Ich möchte etwas mehr«. Die leise Bitte, satt werden zu dürfen, wirkt im düsteren Speisesaal des Arbeitshauses im viktorianischen England wie ein Hilfeschrei. Daraufhin wird der Waisenjunge Oliver Twist (Barney Clark) von den bigotten Heimleitern an einen Leichenbestatter verkauft und flieht nach London. In der Metropole nimmt sich der junge Langfinger Dodger (Harry Eden) des hungrigen Ausreißers an und führt ihn ein in die Kinder-Diebesbande um den zwielichtigen Gauner Fagin (Sir Ben Kingsley).
Beim ersten Beutezug wird Oliver, obwohl er nur zuschaut, prompt erwischt. Der gutbürgerliche Buchhändler Mr. Brownlow (Edward Hardwicke) rettet den Jungen vor der wütenden Menge und nimmt ihn bei sich auf. Aber auf Druck des brutalen Zuhälters Bill Sykes (Jamie Foreman) setzt die Bande alles daran, den Flüchtling zurück zu holen.
Mit der jüngsten Verfilmung des Klassikers »Oliver Twist« scheinen sich Autor Charles Dickens (1812-1870) und Filmemacher Roman Polanski auf persönlicher Ebene zu begegnen, obwohl sie fast anderthalb Jahrhunderte trennen. Beiden wurde ihre Kindheit geraubt: Dickens musste als Zwölfjähriger in einer Fabrik für Schuhschwärze arbeiten, um die Familie durchzubringen. Polanski, dessen polnisch-jüdische Eltern von den Nazis deportiert wurden, suchte als Achtjähriger Zuflucht bei Pflegefamilien.
Regisseur Polanski und sein Drehbuchautor Ronald Harwood bleiben sehr nah an der Romanvorlage. Die französisch-englisch-tschechische Co-Produktion lässt im nebligen Prag das alte London wieder auferstehen. Dabei wirkt Polanskis Ästhetik, das Wechselspiel von Licht und Schatten, für die Elendsatmosphäre des Romans wie geschaffen.

Artikel vom 22.12.2005