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Orhan Pamuk

»Die Ehre eines Volkes leidet, wenn man dunkle Punkte von früher verschweigt.«

Leitartikel
Orhan Pamuk - unliebsam

Die Wahrheit
schmerzt
bisweilen sehr


Von Rolf Dressler
Letztlich hatte es der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk wohl nur Leibwächtern und Sicherheitsbeamten zu verdanken, dass er am letzten Freitag trotz eines gefährlichen Wurfgeschosshagels aus einer aufgepeitschten Menge doch noch halbwegs unbeschadet den Gerichtssaal im Istanbuler Stadtteil Sisli erreichte.
Pamuk ist für sein literarisches Werk mit dem Friedenspreis 2005 des deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden. Hierzulande aber regte sich auf Straßen oder Plätzen keinerlei nennenswerter Protest gegen die Erniedrigung des Romanciers in dessen Heimat. In solchen Fällen - das scheint System zu haben - machen sich diejenigen auffällig rar, denen sonst kaum ein »Demo«-Anlass gering genug ist, eine Mücke zum Elefanten aufzublasen.
Naturgemäß konnte oder wollte der aktuelle EU-Gipfel, weil vollauf beschäftigt mit dem großen Finanz-Roulette, die skandalösen Attacken auf den ehrbaren Orhan Pamuk nicht zum Thema erheben. Ein derart heißes Eisen packt kei- ner im Klub der 25 aus dem Stand beherzt an. Man weiß um die Bri- sanz und will sich tunlichst nicht zu weit aus dem Fenster hängen. Schließlich laufen bekanntlich ja bereits die Einstiegsverhandlungen in Richtung EU-Beitritt der Türkei.
Die Staatsmacht dort aber kennt kein Pardon. Sie würdigt und ehrt, wie Orhan Pamuk offen zu sagen wagt, bei jeder Gelegenheit Politiker, Armee-Offiziere, Polizeibeamte und andere Repräsentanten, während Schriftsteller reihenweise mit Strafverfahren überzogen und ins Gefängnis geworfen werden. Pamuk wohlgemerkt ist einer angeblichen »öffentlichen Herabsetzung des Türkentums« und einer »Verunglimpfung staatlicher Institutionen« angeklagt. Begründung: Er verlange, dass der (historisch längst unstreitige) systematische Völkermord an mehr als einer Million Armeniern in der Zeit des Osmanischen Reiches im Jahre 1915 endlich enttabuisiert, redlich diskutiert und vor der Welt eingestanden werden müsse.
Für Orhan Pamuk ist es unbegreiflich - und er spricht dies un- erschrocken aus -, dass dieselbe Türkei, die allen Ernstes in die Europäische Union aufgenommen werden wolle, ihn selbst und andere unliebsame Kritiker unter den Augen der Europäer und des demokratischen Westens strafrechtlich verfolge und sogar einkerkere.
Angesichts der üblen verbalen und physischen Übergriffe auf Pa- muk erklärte EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn dankenswert klar: »Nicht Pamuk steht hier vor Gericht, sondern die Türkei.« Genauso unmissverständlich äußerte sich Englands Ex-Europaminister Denis McShane: Diese türkische Staatsmacht und die ihr offenbar willig dienende Justiz zeigten das gespenstische Gesicht »einer Diktatur, nicht aber einer rechtsstaatlichen Demokratie«.
Pamuk drohen bis zu vier Jahre Haft. Sein Prozess wird am 7. Fe- bruar 2006 fortgesetzt. Fünf prominente Zeitungskommentatoren, vom selben Tag an angeklagt in ähnlicher Sache, erwarten sogar bis zu zehn Jahre Kerker.

Artikel vom 19.12.2005