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S Zum Schluß zog er den Stuhl näher heran und setzte sich ihr gegenüber:
»Schön, dich zu sehen. Du hättest auch schon früher kommen können.«
»Ich habe mich nicht getraut.«
»Nicht?«
»Du bereust, daß du mich mit hierhergenommen hast, stimmtÕs?«
»Nein.«
»Doch. Du bereust es. Aber mach dir keine Sorgen. Ich warte bloß noch auf grünes Licht, dann bin ich hier weg. Es ist nur noch eine Frage von Tagen.«
»Wo willst du hin?«
»In die Bretagne.«
»Zu deiner Familie?«
»Nein. In ein Zentrum für... für menschliche Wracks. Nee, ich bin blöd. In ein Zentrum des Lebens, so muß ich wohl sagen.«
»...«
»Das hat der Doc für mich aufgetan. So ein Teil, wo sie aus Algen Dünger machen. Algen, Scheiße und geistig Behinderte. Genial, oder? Ich werd der einzige normale Arbeiter sein. Wobei ÝnormalÜ, ist ja relativ.«
Er lächelte.
»Hier, sieh dir die Broschüre an. Das hat doch Klasse, oder?«
Zwei Mongoloide mit einer Mistgabel in der Hand standen vor einer Art Sickergrube.
»Ich werde Algenkompost machen, so ein Zeug aus Pflanzenabfall, Algen und Pferdemist. Ich spür schon, das wird mir gefallen. Na ja, am Anfang ist es anscheinend nicht so einfach, wegen dem Geruch, aber später merkt man gar nichts mehr.«
Er legte das Foto wieder weg und zündete sich eine Zigarette an.
»Die großen Ferien halt.«
»Wieviel Zeit bleibt dir noch?«
»Soviel ich brauche.«
»Nimmst du Methadon?«
»Ja.«
»Seit wann?«
Unbestimmte Geste.
»Bist du okay?«
»Nein.«
»Komm schon. Du wirst das Meer sehen!«
»Super. Und du? Warum bist du hier?«
»Wegen der Concierge. Sie hatte Angst, du wärst tot.«
»Da wird sie enttäuscht sein.«
»Bestimmt.«
Sie lachten.
»Bist... bist du auch HIV positiv?«
»Nee. Das hab ich nur gesagt, um ihr zu gefallen. Damit sie sich mit meinem Hund anfreundet. Nee, nee... Ich hab immer aufgepaßt. Hab mich mit sauberen Dingern kaputtgespritzt.«
»Ist es deine erste Entziehungskur?«
»Ja.«
»Meinst du, du schaffst es?«
»Ja.«
»...«
»Ich hatte Glück. Man muß die richtigen Leute treffen, denk ich... und ich... ich glaub, daß ich sie an der Hand habe.«
»Deinen Arzt?«
»Meine Ärztin! Ja, aber nicht nur. Einen Seelenklempner auch. Einen alten Opa, der mir den Kopf abgerissen hat. Kennst du V33?«
»Was ist das? Ein Medikament?«
»Nein, ein Zeug, mit dem man Holz abbeizt.«
»Ach ja! Eine rotgrüne Flasche, stimmtÕs?«
»Wenn du es sagst. Na ja, der Typ ist mein V33. Er trägt das Mittel auf, es brennt, es wirft Blasen, und dann nimmt er seinen Spachtel und löst die ganze Scheiße. Sieh mich an. Unter meinem Schädel bin ich vollkommen nackt!«
Er konnte nicht lächeln, seine Hände zitterten:
»Scheiße, ist das schwer. Zu schwer. Ich hätte nicht gedacht, daß...«
Er hob den Kopf.
»Und außerdem, eh... War da noch jemand anderes. Eine Kleine mit Storchenbeinen, die ihre Hose wieder hochgezogen hat, bevor ich mehr sehen konnte, leider.«

»Wie heißt du?«
»Camille.«
Er wiederholte den Namen und drehte sich zur Wand.
»Camille... Camille. An dem Tag, wo du aufgetaucht bist, Camille, hatte ich eine üble Begegnung. Es war zu kalt, und ich hatte keine große Lust mehr, mich durchzuschlagen, glaub ich. Aber okay. Du warst da. Also bin ich mit dir gegangen. Ich bin halt ein Kavalier.«
Stille.
»Soll ich noch mehr erzählen, oder hast du schon genug?«
»Schenk mir noch eine Tasse ein.«
»Entschuldige. Das liegt an dem Alten. Ich red wie ein Wasserfall.«
»Für mich kein Problem.«
»Nee, und außerdem ist es wichtig. Na ja, auch für dich, glaub ich.«
Sie runzelte die Stirn.
»Deine Hilfe, deine Bude, dein Futter ist eine Sache, aber ich sag dir, ich war wirklich auf Õnem fiesen Trip, als du mich gefunden hast. Ich war im Rausch, verstehst du? Ich wollte zurück und sie sehen, ich... ich habe... Und dieser Typ hier hat mich gerettet. Dieser Typ und deine Bettlaken.«

Er hob es auf und legte es zwischen sie. Camille erkannte das Buch. Es waren die Briefe van Goghs an seinen Bruder.
Sie hatte vergessen, daß es hier oben lag.
Nicht, daß sie es nicht ausgiebig mit sich herumgeschleppt hätte.

»Ich hab es aufgeschlagen, um mich zurückzuhalten, um nicht durch die Tür zu gehen, weilÕs hier nichts anderes gab, und weißt du, was das Buch mit mir gemacht hat?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Es hat das, das und das mit mir gemacht.«
Er hatte es genommen und sich damit auf den Kopf und beide Wangen geschlagen.

»Ich lese es jetzt schon zum dritten Mal. Das... Das alles ist für mich. Da drin steht alles. Den Typ kenn ich in- und auswendig. Das bin ich. Das ist mein Bruder. Alles, was er sagt, versteh ich. Wie die Sicherung bei ihm durchbrennt. Wie er leidet. Wie er immer wieder dasselbe vor sich hinsagt, versucht, die anderen zu verstehen, sich infrage zu stellen, wie er von seiner Familie verstoßen wurde, von seinen Eltern, die nix kapieren, die Aufenthalte in der Klinik und alles. Ich... ich will dir nicht mein ganzes Leben erzählen, keine Angst, aber es ist irre, weißt du? Wie er mit Mädchen umgeht, wie er sich in eine hochnäsige Pute verliebt, wie er verachtet wird, und an dem Tag, an dem er beschließt, mit dieser Hure zusammenzuziehen... Die schwanger ist... Nee, ich erzähl dir nicht mein Leben, aber es gibt schon Übereinstimmungen, da wird mir schwindlig. Außer seinem Bruderherz, wenn überhaupt, hat kein Mensch an ihn geglaubt. Kein Mensch. Aber er, so zerbrechlich und schwachsinnig er ist, glaubt daran, er... Na ja... Er behauptet es zumindest, daß er den Glauben hat, daß er stark ist und eh... Als ich das zum ersten Mal gelesen hab, fast in einem Rutsch, weißt du, hab ich den kursiven Text am Ende nicht kapiert.«
Er schlug ihn auf:
»Brief, den Vincent van Gogh am 29. Juli 1890 bei sich trug. Erst als ich am nächsten oder übernächsten Tag das Vorwort las, hab ich kapiert, daß er sich umgebracht hat, der Idiot. Daß er den Brief gar nicht abgeschickt hat, und ich... Scheiße, ich kann dir gar nicht sagen, wie mich das fertiggemacht hat. Alles, was er über seinen Körper sagt, spür ich auch. Wie er leidet, das sind nicht nur leere Worte, verstehst du? Das sind... Na ja, ich... seine Arbeiten sind mir scheißegal. Das heißt, nee, das stimmt nicht, aber dafür hab ich es nicht gelesen. Was ich gelesen hab, ist, wenn du nicht in Reih und Glied marschierst, wenn du anders bist, als die anderen wollen, dann leidest du. Du leidest wie ein Tier, und am Ende verreckst du. Von wegen. Ich will nicht verrecken. Aus Freundschaft zu ihm, aus Brüderlichkeit will ich nicht verrecken. Ich nicht.«

Camille war ganz platt. Zisch! Gerade war ihr die Asche in den Kaffee gefallen.

»Hab ich grad völligen Schwachsinn erzählt?«
»Nein, im Gegenteil... ich...«
»Hast du ihn denn gelesen?«
»Ja klar.«
»Und du... Hast du nicht mitgelitten?«
»Ich habe mich vor allem für seine Arbeiten interessiert. Er hat spät damit angefangen. Ein Autodidakt... Ein... Kennst du eigentlich seine Bilder?«
»Die Sonnenblumen, meinst du? Nee, ich hab Õne Zeitlang überlegt, ob ich mir ein Buch anschauen soll oder so, aber ich hab keine Lust, mir sind meine eigenen Vorstellungen lieber.«
»Behalt es. Ich schenkÕs dir.«

»Weißt du... Wenn ich das alles irgendwann mal hinter mich gebracht hab, bedank ich mich bei dir. Jetzt kann ich das nicht. Ich habÕs schon gesagt, ich geh echt aufÕm Zahnfleisch. Außer dieser großen Flohmarkttasche hab ich nichts mehr.«
»Wann fährst du?«
»Eigentlich nächste Woche.«
»Willst du dich bei mir bedanken?«
»Wenn ich kann.«
»Laß mich dich malen.«
»Ist das alles?«
»Ja.«
»Nackt?«
»Das wäre mir am liebsten.«
»Mensch, du hast mich noch nicht nackt gesehen.«
»Ich kannÕs mir vorstellen.«

Er schnürte seine Turnschuhe, und sein Hund rannte aufgeregt hin und her.
»Gehst du raus?«
»Die ganze Nacht. Jede Nacht. Ich lauf bis zum Umfallen. Morgens, wenn die aufmachen, hol ich mir meine tägliche Dosis ab und leg mich schlafen, um bis zum nächsten Tag durchzuhalten. Was Besseres ist mir bisher noch nicht eingefallen.«
Geräusche auf dem Flur. Haaresträuben.
»Da ist jemand«, sagte er voller Panik.

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 22.12.2005