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Johann C. Lichtenberg (1742 -1799)

»Dass der Mensch das edelste Geschöpf sei, ersieht man schon daran, dass noch kein anderes ihm je widersprochen hat.«

Leitartikel
Wohllaute aus der Politik

Einer tut
den ersten
Schritt


Von Rolf Dressler
»Wohllaut« sei eines der schönsten Wörter unserer deutschen Sprache. Das befand unlängst die Zeitung »Deutsche Sprachwelt«. Und man pflichtet ihr darin gern bei.
Nun können Menschen des öf- fentlichen Interesses und selbst solche in hohen Ämtern natürlich nicht bei jeder Alltagsgelegenheit Formulierungen und Begriffsschöpfungen hervorbringen, die höchsten Ansprüchen genügen, als stammten sie aus der Feder von Schriftstellern oder Dichtern gar. Da sollte die Mitwelt also realistisch bescheiden bleiben - und sich jederzeit gern überraschen lassen. Wie etwa von dem versöhnlichen Brief-Aufruf Peter Strucks, des SPD-Fraktionschefs im Deutschen Bundestag und Mit-Architekten der großen Koalition unter Führung von CDU-Kanzlerin Angela Merkel.
Vielleicht noch zusätzlich beflügelt durch die allgemeine Vorfreude auf das Weihnachtsfest wandte er sich Anfang dieser Woche ungewöhnlich bewegt und bewegend an seine sozialdemokratischen Abgeordneten-Kollegen. Doch er beließ es nicht bei der optimistischen Bekundung, dass Union und SPD Deutschland gemeinsam voranbringen könnten, sondern fügte hinzu: »Nehmt euch eurer Gegenüber in der CDU/CSU bereitwillig an, lernt sie kennen, damit es menschlich vorangeht.«
Damit es menschlich vorangeht - ein solches Zeichen, zumal aus dem Munde eines maßgeblichen Politikers, tut uns allen gut. Es wirkt wie eine Wohltat in einer Zeit, die oft erdrückend geprägt wird von eitler Selbstinszenierung und dümmlich-schrillem Wichtigtuer-Gehabe nach dem Motto: Hauptsache, ich falle auf, bin möglichst oft ganz vorn »auf Sendung«. Am besten natürlich im Fernsehen. In jenem unheimlich modernen Trend-Medium also, ohne das öffentlich tätige Menschen wie Politiker und sonstige Funktionsträger in ihren Ämtern nach Lage der Dinge wohl kaum überleben könnten.
Dessen magische Wirkungsmacht freilich beurteilt der langjährige ZDF-Intendant Dieter Stolte aus eigener gründlicher Erfahrung bemerkenswert kritisch. Offenbar im Blick darauf, wie viele krasse Verstöße gegen die Zehn Gebote die TV-Industrie ihren Zuschauern und Zuhörern rund um die Uhr zumutet, sagt der gläubige Christ Stolte mahnend: »Was wir Menschen aus dem Fernsehen machen und das Fernsehen aus uns, das bleibt am Ende aller Tage das Maß, nach dem abgerechnet wird - vor Gott, vor der Gesellschaft oder vor den Gerichten...«
Im Bundestagswahlkampf hatte sich Noch-SPD-Kanzler Gerhard Schröder dazu verstiegen, der frühere Verfassungsrichter Professor Paul Kirchof wolle die Deutschen mit einer radikalen Steuerreform gleichsam in »Menschenversuchen« (!) zu Testkaninchen machen. Eine böse Entgleisung - jedoch ohne jede Folgen.
Völlig anders nun der Sozialdemokrat Peter Struck. Er möchte »menschlich vorangehen« mit den Christdemokraten. Solche Wohllaute könnten Wunder wirken.
Auch über Weihnachten hinaus.

Artikel vom 24.12.2005