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Das Wort zum Sonntag

Von Pfarrer Dr. Dr. Markus Jacobs


Es gibt bestimmte christliche Bräuche, die sind im ostwestfälischen Raum sehr selten geübt, fast sogar unbekannt. Ein solcher Brauch in der Adventszeit ist das so genannte »Frauentragen«.
Wenn Sie am Heiligen Abend in einen nachmittäglichen Gottesdienst gehen, dann werden Sie mit großer Wahrscheinlichkeit ein Krippenspiel erleben. Mit Hingabe und Ernst werden Kinder dann etwas von der Geburtsgeschichte Jesu nachspielen. In fast allen Krippenspielen gibt es darin eine Episode, bei der sich die darstellenden Kinder auffällig engagiert ins Zeug legen: das ist die Herbergssuche.
Nicht so zartfühlend wie im Rest der Szenen, sondern mit Rufen, Strenge und Härte spielen dann die Darsteller jene Suche nach, das nach biblischer Erzählung der Geburt in einem Stall voraus gegangen sein muss. âWie hartherzig müssen solche Wirtsleute gewesen sein, die Maria und Josef von der Tür gewiesen haben. Wie kann man eine schwangere Frau wegschicken!Õ Man kann sich sein eigenes warmes Haus buchstäblich vorstellen und spürt den kalten Luftzug beim Öffnen der Tür - und auch die Einsamkeit dieser Suchenden, wenn sie dann wieder in die Kälte zurück geschickt werden.
Wie sehr gerade diese Suche nach Unterkunft die eigene Phantasie anregt, merken alle aufmerksam Zuschauenden. Denn jedermann kann sich so gut hinein versetzen: Wir haben doch ein warmes Zu Hause. Wir haben doch auch eine Tür, die wir hinter uns zu machen, damit nicht jeder hereinkommt. Und mit untrüglichem Gespür hat das christliche Brauchtum diese Tatsache aufgegriffen - denn nachdenklich geworden sind schon so viele Christen in diesem Moment: Dieses Zögern oder Nachdenken vermutlich muss doch etwas mit Gottes fragendem und sogar ein wenig nagendem Geist zu tun haben. Hat sich bei uns Christen seit jenen Tagen über den Feldern von Bethlehem überhaupt etwas geändert?
Auf jeden Fall ging man in vielen Gegenden Europas dazu über, in der Adventszeit genau diesen Moment des Anklopfens an der Tür praktisch konkret werden zu lassen.: Man nahm ein Bild mit Maria bzw. Maria und Josef und ließ dieses Bild jeden Tag abends bei einer anderen Haustür um Einlass bitten. Anders ausgedrückt, man schickte ein Bild auf Herbergssuche. Jeweils diejenigen Leute, wo es vorher gewesen waren, brachten es zu einem anderen Haus oder einer Wohnung und schellten an. Alle Christen taten gut daran, vorbereitet zu sein - in manchen Gegenden meldeten sich auch vorher diejenigen, die an diesem Brauch mittun wollten.
Wenn dann Maria, die âLiebe FrauÕ (Frauentragen) und ihr Verlobter Einlass gefunden hatten, hielten die Leute in der jeweiligen Wohnung zuerst eine kleine Gebetszeit. Vor allem aber verschenkten sie dann entweder unter den Armen oder unter den Kindern in der Umgebung etwas vom Essen oder von den Süßigkeiten. Denn sie wollten sich ja als gute Gastgeber zeigen. Sie wollten zeigen, dass sie seit der vergeblichen Herbergssuche in Bethlehem etwas gelernt hatten. Sie wollten die Offenheit für den überraschenden Besuch Gottes in ihrem Haus praktisch ausdrücken.
Bei uns in Ostwestfalen ist dieses Brauchtum eher unbekannt. Aber es muss nicht unbekannt bleiben. Denn sinnvoll und lebenspraktisch ist es auf jeden Fall. Und die im Hintergrund stehende ernsthafte Frage ist für Christen ohnehin bis heute die gleiche geblieben: Würde es heute Gott bei seiner Herbergssuche in meiner Gegend anders ergehen als damals?

Artikel vom 03.12.2005