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Wiener Klassik
in schönster
Ausformung

Christian Zacharias bei »Pro Musica«

Von Uta Jostwerner
Bielefeld (WB). Vier Jahre lang musste der Musikfreund auf einen erneuten »Pro Musica«-Auftritt von Christian Zacharias warten. Wer jedoch diesen äußerlich eher schlaksig wirkenden, musikalisch aber äußerst eleganten Ästheten am Klavier einmal erlebt hat, der trotzt auch Schnee und Kälte.

Da gibt es schon zu denken, dass ausgerechnet das professionelle Transportunternehmen United Parcel Service (UPS) witterungsbedingte Ausfälle verzeichnete und die Programmhefte im wahrsten Wortsinn auf der Strecke blieben. Kein Drama jedoch, denn Zacharias, dessen künstlerische Fähigkeiten nicht an die Tasten gebunden sind, sondern der diesmal als Leiter und Solist des Orchestre de Chambre de Lausanne in Erscheinung trat, steht für eine sprechende Musik, die erläuternder Worte nicht bedarf. Der der Wiener Klassik zugehörige Werkekanon verzichtete erfreulicherweise auf Gassenhauer und bot seltener Gespieltes nebst einer Entdeckung.
Wer hat schon mal was von Joseph Martin Kraus gehört, der als »Odenwälder Mozart« in die Musikgeschichte einging? 1756 im gleichen Jahr wie der bekannte Sohn Salzburgs geboren, trat er als Kapellmeister in den Dienst Gustavs III., des schwedischen Königs. Kraus, der nur ein Jahr älter als Mozart wurde, hinterließ Opern, geistliche Werke, Lieder sowie Sinfonien. Eine davon ist die - wie auch sämtliche anderen Werke des Abends -Ê 1784 entstandene Sinfonie in c-Moll. Der untypische Larghetto-Einstieg mit getragener Melancholie weist den Komponisten als Meister der Kontrapunktik aus, der dann im Allegro überraschend zum Sturm-und-Drang überschwenkt. Die Handschrift klassischer Würde und Anmut trägt das Andante, bevor ein Gipfelstürmer-Allegro höchste Spannung verursacht.
Mit betörend kultiviertem Klangsinn und höchster Präzision fand das Orchester zu sprechender Klangrede. Ob bei Kraus, Haydns Sinfonie Nr. 80 oder den beiden Klavierkonzerten in B- und D-Dur von Mozart (KV 450 und 451) - in der nuancenreichen Ausdeutung entstanden mystische Kleingebirge aus Klang und Struktur, die sich angenehm vom oftmals einfallslos heruntergegeigten Wiener-Klassik-Repertoire unterschieden. Mit jeder Faser seines Körpers schien Zacharias den Klang zu formen und zu modellieren, und das Orchester setzte jede Zuckung minutiös in lebendige, aufregende Klangsprache um.
Scheinbar mühelos wechselte Zacharias als Solist der Klavierkonzerte die Rollen und servierte die Werke in einer höchst eigenen Lesart. Frei, aber niemals exzentrisch verstand sich Christian Zacharias auf die Kunst der Zwischentöne und verblüffte neben hochmusikalischer Interpretation mit federnd leichter und sensibler Anschlagskultur. Bravos und Bravissimo-Rufe sowie frenetischer Applaus.

Artikel vom 28.11.2005