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Angela Merkel wusste
schon per SMS Bescheid

Schröder blickt noch einmal in Richtung Regierungsbank

Von Ulrich Scharlack
Berlin (dpa). Angela Merkel wartet. Sie plaudert im Plenarsaal des Bundestages seit einer dreiviertel Stunde mit Abgeordneten aller Fraktionen, um sich die Zeit bis zur Bekanntgabe des Ergebnisses der Kanzler-Wahl zu vertreiben.
»Das kommt nicht alle Tage vor«: Merkels Eltern Horst und Herlind Kasner sind stolz.
Da meldet sich um 10.49 Uhr ihr Handy. Merkel schaut kurz auf das Display. Aus der Zählkommission hat ein Parteifreund ihr das Abstimmungsresultat übermittelt. 397 Abgeordnete haben für sie gestimmt, lautet die Botschaft. Merkel nickt kurz und energisch. Es hat gut gereicht, drückt dieses Nicken aus. Obwohl sie 51 Voten aus der großen Koalition nicht bekommen hat, bewegt sich das Ergebnis im Rahmen ihrer Erwartungen. Noch bevor Parlamentspräsident Norbert Lammert die gelbe Mappe mit dem amtlichen Resultat überreicht bekommt, gratulieren ihr die ersten Parteifreunde.
Dies sind Stunden, in denen im Bundestag Geschichte geschrieben wird. Wohl die meisten der 612 Bundestagsabgeordneten haben gestern Morgen dieses Gefühl, als sie zu den vorbereitenden Fraktionssitzungen kommen. Ein neuer Kanzler wird nicht alle Tage gewählt. Vor Merkel hat es nur sieben Bundeskanzler gegeben. Zum zweiten Mal nach 1966 will eine große Koalition an den Start gehen. Aber vor allem soll an diesem Tag zum ersten Mal eine Frau zur Bundeskanzlerin gewählt werden. »Die Sitzung ist eröffnet. Ich begrüße sie zu diesem bedeutenden Tag«, sagt Lammert.
Wenig später startet der Parlamentspräsident den Wahlgang. Wie in einem Bienenschwarm geht es zu, als die Abgeordneten aufgerufen werden, um in den Wahlkabinen ihre Stimmzettel anzukreuzen. Gerhard Schröder sitzt bei den Sozialdemokraten in der ersten Reihe, umrahmt vom neuen Fraktionschef Peter Struck und dem ehemaligen Parteichef Franz Müntefering.
Einmal steht der Noch-Bundeskanzler auf und geht in Richtung der leeren Regierungsbank. Er wirft noch einen Blick auf den blauen Stuhl rechts neben dem Präsidenten-Platz, wo er in Berlin seit 1998 saß.
Drei Minuten nach der SMS ist Lammert an der Reihe. Er verliest das Ergebnis. »Mit Ja haben gestimmt: 397.« Die Abgeordneten aus der Union springen von den Stühlen auf und applaudieren. Die erste Reihen der Sozialdemokraten wollen dem nicht nachstehen und erheben sich fast gleichzeitig.
Lammert ist an diesem Tag gut aufgelegt. »Nicht nur mit Rücksicht auf viele Generationen von Historikern würde ich gerne das vollständige Wahlergebnis bekannt geben«, sagt er und verkündet die 202 Nein-Stimmen. Als aus der Ecke der Linkspartei geklatscht wird, merkt er süffisant an: »Bis zu diesem Augenblick war die Wahl geheim.« Wenig später steht Schröder auf und gratuliert seiner Nachfolgerin als erster.
Während Merkel noch längere Zeit im Plenum Hände schüttelt, wird in der Lobby über das Ergebnis diskutiert. War es nun ein gelungener Start? Die Antwort bleibt offen, da niemand der Groß-Koalitionäre das Ergebnis schlecht reden will.
Struck bezeichnete das Ergebnis als »ordentlich und ehrlich«. Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Olaf Scholz, merkte ironisch an: »Ich war mir klar, dass die Prognose von 100 Nein-Stimmen nicht eintritt.«
Etwas Sarkasmus war auch in den Reihen der Union festzustellen. »So viel Ja-Stimmen hat doch nie ein Bundeskanzler bekommen«, merkte ein geschichtsfester Parlamentarier an. Allerdings hatte nach Kurt Georg Kiesinger auch noch nie ein Bundeskanzler so viele Nein-Stimmen aus den Reihen der eigenen Koalition hinnehmen müssen.
Merkel hat sich da schon kurz zurückgezogen, um mit ihrer Familie anzustoßen. Ihr Ehemann Joachim Sauer hat sich das Ganze aus seinem Büro in der Universität angeschaut. Um halb zwölf Uhr telefonieren sie. Dann fährt Merkel zum Bundespräsidenten. Horst Köhler wünscht ihr »viel Glück, viel Kraft und Gottes Segen«.

Artikel vom 23.11.2005