28.11.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 



Eine beeindruckende Kollektion an Bürsten aller Größen und Borstenarten, einen Staubwedel so schön wie ein Sonnenschirm, einen Buchsbaumspanner, um Handschuhen wieder zu ihrer Form zu verhelfen, und eine Art Schläger aus Weidenruten zum Teppichklopfen.
Sie reihte diese Schätze gewissenhaft nebeneinander auf und hielt sie in einem großen Heft fest.
Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, alles zu malen, um es Philibert an dem Tag zu überreichen, da er diese Wohnung verlassen mußte.

Wann immer sie anfing aufzuräumen, fand sie sich im Schneidersitz wieder, in riesige Hutschachteln voller Briefe und Fotos versunken, und verbrachte Stunden mit schmucken Schnurrbartträgern in Uniform, vornehmen Damen, die geradewegs einem Gemälde von Renoir entstiegen waren, und kleinen Jungen, die wie kleine Mädchen gekleidet waren und mit fünf Jahren ihre rechte Hand auf ein Schaukelpferd legten, mit sieben auf einen Reifen und mit zwölf auf eine Bibel, die Schulter ein wenig zurück, um die weiße Armbinde des von der Gnade berührten Kommunikanten zu zeigen.
Ja, sie liebte diesen Ort, und es geschah nicht selten, daß sie beim Blick auf die Uhr zusammenzuckte, durch die Metrogänge raste und sich von Super Josy einen Anpfiff einfing, wenn diese auf ihr Zifferblatt zeigte... Pah!

»Wo willst du hin?«
»Arbeiten, ich bin tierisch spät dran.«
»Zieh dich warm an, es ist eiskalt.«
»Ja, Papa. Übrigens...« fügte sie noch hinzu.
»Ja?«
»Morgen kommt Philou wieder...«
»Echt?«
»Ich habe mir den Abend freigenommen. Bist du da?«
»Ich weiß nicht.«
»Na gut.«
»Zieh dir wenigstens einen Scha...«
Die Tür war schon ins Schloß gefallen.

Da soll sich einer auskennen, wetterte er, wenn ich sie anmache, ist es verkehrt, und wenn ich ihr sage, sie soll sich warm anziehen, hört sie nicht auf mich. Das Weib bringt mich noch um.
Neues Jahr, alte Last. Dieselben schweren Bohnermaschinen, dieselben immerzu verstopften Staubsauger, dieselben numerierten Eimer (»kein Gezänk mehr, Mädels!«), dieselben erbittert umkämpften Reinigungsmittel, dieselben verstopften Waschbecken, dieselbe liebenswerte Mamadou, dieselben müden Kolleginnen, dieselbe hektische Jojo. Alles beim alten.

Besser in Form, war Camille doch weniger eifrig. Sie hatte ihre Steine am Eingang abgeladen, wieder angefangen zu arbeiten, lechzte nach Tageslicht und sah keinen großen Sinn mehr darin, verkehrt herum zu leben. Am Morgen war sie am produktivsten, und wie sollte sie morgens arbeiten, wenn sie nie vor zwei oder drei im Bett war, erschöpft von der körperlichen wie aufreibenden Arbeit?

Ihre Hände kribbelten, ihr Gehirn lief auf Hochtouren: Philibert würde zurückkommen, Franck war erträglich, die Vorzüge der Wohnung unermeßlich. Eine Idee ging ihr nicht aus dem Kopf. Eine Art Freske. Nein, nicht wirklich eine Freske, das Wort war zu hochtrabend. Vielmehr eine Beschwörung. Ja, genau, eine Beschwörung. Eine Chronik, eine imaginäre Biographie des Ortes, an dem sie lebte. Hier gab es so viel Material, so viele Erinnerungen. Nicht allein die Gegenstände. Nicht allein die Fotos, sondern auch die Atmosphäre. Eine Atmosphäääre, wie die andere sagen würde. Gemurmel, noch etwas Herzklopfen. Diese Bücher, diese Gemälde, die arroganten Zierleisten, die Lichtschalter aus Porzellan, die blanken Kabel, die Wärmflaschen aus Metall, die kleinen Töpfe mit Kataplasma, die maßgefertigten Schuhspanner und all die vergilbten Etiketten.
Das Ende einer Welt.

Philibert hatte sie gewarnt: Eines Tages, vielleicht morgen schon, würden sie gehen müssen, ihre Kleider, ihre Bücher, ihre CDs, ihre Erinnerungen, ihre zwei gelben Tupperschüsseln zusammensuchen und alles zurücklassen.
Und dann? Wer weiß? Bestenfalls die Aufteilung, schlimmstenfalls den Sperrmüll, den Trödelmarkt oder die Altkleidersammlung. Klar, die Wanduhr und die Zylinderhüte würden Abnehmer finden, aber der Alkohol zum Pfeifenreinigen, die Vorhangfalten, der Pferdeschweif mit seinem kleinen Votivbild In memoriam Venus, 1887-1992, stolzer Fuchs mit getupfter Nase und der Rest Chinin in einem blauen Fläschchen auf der Ablagefläche im Bad, wer würde sich darum scheren?

Konvaleszenz? Somnolenz? Sanfte Demenz? Camille wußte nicht, wann noch wie diese Idee zu ihr gefunden hatte, aber irgendwie hatte sie sich einen Weg zu ihr gebahnt, diese kleine Gewißheit im Taschenformat - und vielleicht hatte sie ihr sogar der alte Marquis ins Ohr geflüstert? -, daß das alles, diese Eleganz, diese mit dem Tod ringende Welt, dieses kleine Museum der Künste und bürgerlichen Traditionen, nur auf ihr Kommen, ihren Blick, ihre Sanftmut und ihre entzückte Feder gewartet hatte, bevor er sich dazu entschloß, für immer zu verschwinden.

Diese skurrile Idee kam und ging, verschwand am Tag, häufig verscheucht von lawinenartigem Hohngelächter: Ach, du bedauernswertes Geschöpf, wohin soll das führen? Und wer bist du überhaupt? Und wen sollte das alles interessieren, was meinst du?
Nachts hingegen. Ja, nachts! Wenn sie von ihren gräßlichen Türmen zurückkehrte, wo sie die meiste Zeit vor einem Eimer gekauert und sich die tropfende Nase mit einem Nylonärmel abgewischt hatte, wenn sie sich zehnmal, hundertmal gebückt hatte, um Plastikbecher und sinnlose Zettel wegzuwerfen, wenn sie kilometerlang fahlen Tunneln gefolgt war, wo geschmacklose Graffiti dergleichen nicht überdecken konnten: Und er? Was fühlt er, wenn er bei euch ist?, wenn sie ihren Schlüssel auf den Konsoltisch in der Diele legte und auf Zehenspitzen die große Wohnung durchquerte, konnte sie es nicht überhören: »Camille, Camille«, knarrte das Parkett, »Halt uns fest«, flehte der ganze Trödelkram, »Sapperlot! Warum die Tupperschüsseln und nicht wir?«, erboste sich der alte General, der auf dem Totenbett abgelichtet worden war. »Das stimmt!« wiederholten die Kupferknöpfe und das schäbige Seidenripsband im Chor, »warum?«.
Dann setzte sie sich im Dunkeln hin und drehte sich langsam eine Zigarette, um sie alle zu beruhigen. Erstens sind mir eure Tupperschüsseln egal, zweitens bin ich da, ihr braucht mich bloß um zwölf zu wecken, ihr Witzbolde.
Und sie dachte an den Prinzen Salina, der allein zu Fuß von einem Ball zurückgekehrt war. Der Prinz hatte gerade ohnmächtig dem Untergang seiner Welt beigewohnt und flehte beim Anblick des blutigen Gerippes eines Ochsen und der Gemüseabfälle auf der Straße den Himmel an, nicht mehr so lange zu warten.


Der Typ aus dem fünften Stock hatte ihr eine Schachtel Mon Chéri hingestellt. Spinner, kicherte Camille, schenkte sie ihrer Lieblingschefin und ließ Kater Karlo sich in ihrem Namen bedanken: »Tja, danke, aber sagen Sie - Sie hätten nicht zufällig welche mit Likör?«
Bin ich witzig, seufzte sie und legte ihre Zeichnung hin, bin ich witzig.

In dieser Gemütsverfassung, verträumt und mokant, einen Fuß in Der Leopard, den anderen im Dreck, stieß sie die Tür zu dem kleinen Kämmerchen hinter den Fahrstühlen auf, wo sie ihre Kanister mit Javelwasser und den ganzen anderen Kram aufbewahrten.

Sie war die letzte und fing an, sich im Halbdunkel auszuziehen, als sie merkte, daß sie nicht allein war.

»Ist da... Ist da jemand?« stotterte sie und tastete auf der Suche nach dem Lichtschalter die Wand ab.

Er saß auf dem Boden, panisch, wirrer Blick, die Augen hohl vom Stoff oder vom Entzug, diese Gesichter kannte sie nur zu gut. Er rührte sich nicht, atmete nicht mehr und legte der Hundeschnauze mit den Händen einen Maulkorb an.
So verharrten sie einige Sekunden, musterten einander schweigend, bis sie begriffen, daß keiner von ihnen um sein Leben bangen mußte, und als er seine rechte Hand löste, um einen Finger auf den Mund zu legen, tauchte Camille ihn wieder in Dunkelheit.
Ihr Herz schlug wieder. Wie wild. Sie griff nach ihrem Mantel und ging rückwärts hinaus.
»Der Code?« stöhnte er.
»P... Pardon?«
»Der Türcode zum Gebäude?«
Sie wußte ihn nicht mehr, stammelte etwas, nannte ihm den Zahlencode, tastete sich an der Wand entlang zum Ausgang und fand sich auf der Straße wieder, keuchend und schweißüberströmt.

Sie begegnete dem Wachmann:
»Nicht sehr warm heute, oder?«
»...«
»Alles in Ordnung? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«
»Müde.«
Sie war völlig durchgefroren, schlug die Mantelschöße über der durchnäßten Trainingshose übereinander und lief in die falsche Richtung.
Als sie endlich begriff, wo sie sich befand, folgte sie der weißen Linie, um ein Taxi anzuhalten.(wird fortgesetzt)

Artikel vom 28.11.2005