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Ich stehe auf. Ich werde mich zu Ihnen in die Küche setzen.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja doch! Ich bin schließlich nicht aus Zucker!«
»Einverstanden, aber kommen Sie nicht in die Küche, dort ist es zu kalt. Warten Sie lieber im blauen Salon auf mich.«
»Pardon?«
»Ach ja, es ist wahr. Was bin ich dumm! Er ist heute nicht mehr wirklich blau, seit er leer steht. Das Zimmer zur Diele hin, wissen Sie?«
»In dem das Kanapee steht?«
»Oh, Kanapee ist etwas übertrieben. Franck hat es eines Abends auf der Straße gefunden und mit einem seiner Freunde hier hochgetragen. Es ist sehr häßlich, aber bequem, wie ich zugeben muß.«
»Sagen Sie, Philibert, was ist das hier für eine Wohnung? Wem gehört sie eigentlich? Und warum wohnen Sie hier wie ein Hausbesetzer?«
»Pardon?«
»Als würden Sie nur vorübergehend hier wohnen?«
»Ach, das ist eine üble Erbschaftsgeschichte, leider. Wie es sie überall gibt. Sogar in den besten Familien, wissen Sie?«
Er wirkte aufrichtig verstimmt.
»Das hier ist die Wohnung meiner Großmutter mütterlicherseits, die letztes Jahr verstorben ist, und in Erwartung der Erbschaftsregelung hat mich mein Vater gebeten, mich hier einzuquartieren, um zu verhindern, daß die... Wie sagten Sie noch?«
»Die Hausbesetzer?«
»Genau, die Hausbesetzer! Aber nicht diese Drogenabhängigen mit Sicherheitsnadeln in der Nase, nein, sondern Leute, die viel besser angezogen und weitaus weniger elegant sind: unsere Vettern.«
»Ihre Vettern haben ein Auge auf diese Wohnung geworfen?«
»Ich glaube eher, daß sie das Geld schon ausgegeben haben, das sie hiermit zu verdienen hofften, die Ärmsten! Der Familienrat hat also beim Notar getagt, woraufhin ich zum Pförtner, Hauswart und zur Nachtwache erklärt wurde. Anfangs gab es natürlich ein paar Einschüchterungsversuche. Außerdem haben sich viele Möbel verflüchtigt, wie Sie gesehen haben, und ich habe häufig dem Gerichtsvollzieher die Tür geöffnet, aber alles scheint sich allmählich entspannt zu haben. Jetzt sind der Notar und die Rechtsanwälte gefragt, um diese lästige Angelegenheit zu regeln.«
»Wie lange sind Sie noch hier?«
»Ich weiß es nicht.«
»Und Ihre Eltern lassen es zu, daß Sie Fremde hier beherbergen, wie den Koch und mich?«
»Was Sie angeht, brauchen sie es nicht zu erfahren, denke ich mir. Bei Franck waren sie eher erleichtert. Sie wissen, wie unbeholfen ich bin. Aber na ja, sie haben überhaupt keine Vorstellung davon, wie es hier aussieht und... Zum Glück! Sie glauben, ich hätte ihn in der Kirchengemeinde kennengelernt!«
Er lachte.
»Haben Sie sie angelogen?«
»Sagen wir, ich war eher... ausweichend.«
Sie war so abgemagert, daß sie ihre Bluse in die Jeans stecken konnte, ohne den Knopf aufmachen zu müssen.
Sie sah aus wie ein Gespenst. Vor dem großen Spiegel in ihrem Zimmer zog sie eine Grimasse, um sich das Gegenteil zu beweisen, schlang sich einen Seidenschal um den Hals, streifte ihre Jacke über und wagte sich in das unglaubliche Hausmannsche Labyrinth.
Schließlich fand sie das scheußliche, durchgesessene Kanapee und machte eine Runde durch das Zimmer, bevor sie die mit Rauhreif bedeckten Bäume auf dem Champ-de-Mars erblickte.
Als sie sich umdrehte, ganz ruhig, nach wie vor etwas benebelt, die Hände in den Hosentaschen, fuhr sie zusammen und konnte einen leisen Schrei nicht unterdrücken.
Ein großer Typ in schwarzer Ledermontur, mit Stiefeln und Helm, stand direkt hinter ihr.

»Eh, guten Tag«, brachte sie schließlich heraus.
Ohne zu antworten, machte er auf dem Absatz kehrt.
Er nahm im Flur seinen Helm ab, fuhr sich durch die Haare und ging in die Küche:
»Sag mal, Philou, was ist denn das für ein warmer Bruder im Salon? Einer von deinen Pfadfinderbrüdern oder was?«
»Pardon?«
»Der Schwule hinter meinem Kanapee.«

Philibert, der ob des Ausmaßes seines kulinarischen Desasters schon hinreichend genervt war, büßte ein wenig seines aristokratischen Gleichmuts ein:
»Der Schwule, wie du sagst, heißt Camille«, korrigierte er ihn mit tonloser Stimme, »und ist meine Freundin. Ich darf dich bitten, dich wie ein Gentleman zu benehmen, ich habe nämlich die Absicht, sie für einige Zeit hier zu beherbergen.«
»He, ist ja schon gut. Reg dich nicht auf. Ein Mädchen, sagst du? Wir sprechen doch von demselben Knaben? Dem kleinen Dürren ohne Haare?«
»Das ist ein Mädchen, in der Tat.«
»Bist du sicher?«
Philibert schloß die Augen.

»Der ist deine Freundin? Ich meine, die? Sag mal, was kochst du ihr da? Haferschleim auf Russisch?«
»Das ist eine Suppe, stell dir vor.«
»Das hier? Eine Suppe?«
»Genau. Eine Kartoffellauchsuppe von Liebig.«
»Was für ein widerliches Zeug. Und außerdem hast du es anbrennen lassen, das wird fürchterlich schmecken. Was hast du denn da noch reingetan?« fragte er entsetzt, nachdem er den Deckel hochgehoben hatte.
»Nun... Schmelzkäse und Toastbrotwürfel.«
»Warum das denn?« fragte er beunruhigt.
»Der Arzt... Er hat mir aufgetragen, sie aufzupäppeln...«
»Tja, wenn du sie mit dem Zeug aufgepäppelt kriegst, Hut ab! In meinen Augen bringst du sie damit eher um.«
Daraufhin holte er sich ein Bier aus dem Kühlschrank und verzog sich in sein Zimmer.

Als sich Philibert zu seinem Schützling gesellte, war sie noch immer etwas außer Fassung:
»Ist er das?«
»Ja«, murmelte er und stellte das große Tablett auf einen Pappkarton.
»Setzt er seinen Helm nie ab?«
»Doch, aber wenn er montags abends nach Hause kommt, ist er immer widerwärtig. Normalerweise gehe ich ihm an diesem Tag aus dem Weg.«
»Hat er dann zuviel gearbeitet?«
»Eben nicht, montags arbeitet er nicht. Ich weiß nicht, was er macht. Er geht morgens früh aus dem Haus und kommt stets schlecht gelaunt zurück. Familiäre Probleme, glaube ich. Bitte sehr, greifen Sie zu, solange es noch warm ist.«
»Hm... Was ist das?«
»Eine Suppe.«
»Ja?« sagte Camille und versuchte den seltsamen, unappetitlichen Brei umzurühren.
»Eine Suppe nach Art des Hauses... Eine Art Borschtsch, wenn Sie so wollen.«
»Aaah! Perfekt«, wiederholte sie lachend.

Auch diesmal wieder ein nervöses Lachen.

TEIL 2
1. Kapitel Hast du mal zwei Minuten? Wir müssen reden.«

Philibert trank zum Frühstück immer heiße Schokolade, und sein größtes Vergnügen bestand darin, das Gas abzudrehen, kurz bevor die Milch überkochte. Mehr als ein Ritual oder eine Manie war es sein täglicher kleiner Sieg. Sein Heldenstück, sein heimlicher Triumph. Die Milch fiel in sich zusammen, und der Tag konnte beginnen: Er hatte die Situation im Griff.

Doch an diesem Morgen, verunsichert oder überfahren vom Ton seines Mitbewohners, drehte er den falschen Knopf. Die Milch lief über, und ein unangenehmer Geruch verbreitete sich im Raum.

»Pardon?«
»Ich sagte: Wir müssen reden.«
»Reden wir«, antwortete Philibert ganz ruhig und weichte den Topf ein, »ich höre.«
»Wie lange bleibt sie hier?«
»Wie bitte?«
»Komm, tu nicht so! Dein Mäuschen? Wie lange bleibt sie noch hier?«
»Solange sie es wünscht...«
»Du bist in sie verknallt, stimmtĂ•s?«
»Nein.«
»Lügner. Ich seh doch, welchen Zirkus du aufführst. Deine feinen Manieren, dein Burgherrengehabe und alles.«
»Bist du eifersüchtig?«
»Um Gottes willen! Das fehlte noch! Ich eifersüchtig auf einen Haufen Knochen? He, hier steht ja wohl nicht Abt Pierre drauf!« sagte er und zeigte auf seine Stirn.
»Nicht eifersüchtig auf mich, eifersüchtig auf sie. Möglicherweise fühlst du dich hier ein wenig bedrängt und hast keine Lust, deinen Zahnputzbecher einige Zentimeter weiter nach rechts zu schieben?«
»Er nun wieder, mit seinen großen Sprüchen. Jedesmal, wenn du den Schnabel aufmachst, klingt das so, als sollten deine Worte irgendwo aufgeschrieben werden, so toll hört es sich an.«
»...«
»Moment, ich weiß, das hier ist deine Wohnung, das weiß ich. Das ist nicht das Problem. Du lädst ein, wen immer du willst, du beherbergst, wen du willst, du machst hier auch die Suppenküche für Obdachlose, wenn du Bock drauf hast, aber Scheiße, Mann, ich weiß nicht... Wir zwei waren doch ein gutes Team, oder?«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 25.10.2005