31.10.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 



Hat man Sie dazu gezwungen?«
»Leider.«
»Tja, dann verstehe ich, daß die weiße Taube...«
»Wie Sie sagen, die weiße Tau... Taube ist nie du... durchgekommen. Außerdem spüre ich... ich sie immer noch hier«, scherzte er gequält und zeigte auf seinen Adamsapfel.
»Ja... Schauen wir mal.«
»Und außerdem, die Wahrheit ist ganz einfach, und Sie kennen sie ebensogut wie ich: Er ist ei... eifersüchtig. Er platzt fast vor Eifersucht. Versetzen Sie sich in seine Lage. Er hatte die Wohnung für sich a... allein, spazierte hier herum, wann und wie er wollte, meistens in Unterhose oder hi... hinter einer kopflosen jungen Pute her. Er konnte nach Belieben brüllen, fluchen, rülpsen, und unser Kontakt beschränkte sich auf den Austausch pra... praktischer Erwägungen, wie den Zustand der Armaturen oder den Einkauf von Toilettenpapier.
Ich habe mein Zimmer fast nie verlassen und mir Watte in die Ohren gesteckt, wenn ich mich konzentrieren mußte. Er war hier der König. So sehr, daß er nahezu den Ei... Eindruck gewinnen konnte, die Wohnung gehöre ihm in fine. Und dann kommen Sie und Rums. Nicht nur, daß er seinen Hosenlatz schließen muß, er muß noch dazu unsere Vertrautheit ertragen, hört uns mitunter lachen und fängt Bru... Bruchstücke unserer Unterhaltungen auf, von denen er nicht viel verstehen wird. Das muß ha... hart für ihn sein, meinen Sie nicht?«
»Ich hatte nicht das Gefühl, so viel Raum einzunehmen.«
»Nein, Sie... Sie sind im Gegenteil sehr zurückhaltend, aber wenn ich Ihnen etwas sagen soll, da... dann glaube ich... Ich glaube, daß Sie ihm imponieren.«
»He, das ist das Beste, was ich seit langem gehört habe!« rief sie. »Ich? Ihn beeindrucken? Sie scherzen, hoffe ich? Ich hatte noch nie das Gefühl, von jemandem dermaßen verachtet zu werden.«
»Tzz... Er ist nicht sehr gebildet, das steht fest, aber er ist bei weitem kein I... Idiot, dieses Früchtchen, und Sie spielen mitnichten in derselben Li... Liga wie seine Süßen, wissen Sie? Sind Sie schon einmal einer von ihnen begegnet, sei... seit Sie hier sind?«
»Nein.«
»Nun, Sie werden sehen. Es ist... es ist erstaunlich, wirklich. Gleichwohl, ich bi... bitte Sie, stehen Sie über den Dingen. Mir zuliebe, Camille.«
»Aber ich werde nicht mehr lange hiersein, das wissen Sie doch.«
»Ich auch nicht. Er auch nicht, aber bis dahin sollten wir versuchen, in guter Nachbarschaft zu leben... Die Welt ist ohne uns schon schlimm genug, nicht wahr? Und außerdem bringen Sie mich zum Sto... Stottern, wenn Sie solche du... dummen Sachen sagen.«
Sie stand auf, um den Wasserkessel auszustellen.
»Sie sehen nicht sehr überzeugt aus.«
»Doch, doch, ich will es versuchen. Aber na ja, ich bin nicht sonderlich gut im Kräftemessen. Normalerweise schmeiße ich alles hin, anstatt nach Argumenten zu suchen.«
»Warum?«
»Darum.«
»Weil es weniger anstrengend ist?«
»Ja.«
»Das ist keine gute Strategie, glau... glauben Sie mir. Auf lange Sicht wird es Sie ins Verderben stürzen.«
»Es hat mich schon ins Verderben gestürzt.«

»Apropos Strategie, ich werde nächste Woche an einer fa... faszinierenden Tagung über die Militärkunst Napoleons teilnehmen, wollen Sie mitkommen?«
»Nein, aber schießen Sie los, ich bin ganz Ohr: Erzählen Sie mir von Napoleon.«
»Oh! Ein weites Feld... Möchten Sie eine Zi... Zitronenscheibe?«
»Halt, mein Lieber! Ich rühre keine Zitrone mehr an! Ich rühre hier gar nichts mehr an.«
Er sah sie mit großen Augen an:
»Ü... über den Dingen, hatte ich gesagt.«

6. Kapitel
Die wiedergefundene Zeit, für einen Ort, an dem sie alle krepieren sollten, der Name war wirklich gut gewählt. Total daneben.
Franck war schlecht gelaunt. Seine Großmutter redete nicht mehr mit ihm, seit sie hier wohnte, und er mußte sich von Paris bis hierher das Hirn darüber zermartern, was er ihr erzählen könnte. Das erste Mal war er überrumpelt worden, und sie hatten sich den ganzen Nachmittag über wie zwei Porzellanhunde beäugt. Schließlich hatte er sich ans Fenster gestellt und laut kommentiert, was auf dem Parkplatz vor sich ging: von den Alten erzählt, die ins Auto geladen wurden, von denen, die gebracht wurden, den Paaren, die sich anblafften, den Kindern, die zwischen den Autos durchflitzten, dem einen, der sich eine Ohrfeige einfing, der jungen Frau, die weinte, dem Porsche Roadster, der Ducati, dem neuen 5er-BMW und den unaufhörlich eintreffenden und abfahrenden Krankenwagen. Ein spannender Tag, wirklich.

Madame Carminot hatte den Umzug in die Hand genommen, und er war am ersten Montag völlig arglos angekommen, ohne auch nur im mindesten zu ahnen, was ihn erwartete.
Schon die Örtlichkeiten an sich - Geldnot war Gebot gewesen, er hatte mit einem staatlichen Altenheim vorliebnehmen müssen, das in Windeseile zwischen einem Buffalo Grill und einer industriellen Mülldeponie am Stadtrand hochgezogen worden war. Es war ein riesiges Gewerbegebiet, eine riesige Pleite. Eine riesige Pleite mitten im Nichts. Er hatte sich verfahren und über eine Stunde zwischen gigantischen Lagerhallen nach einem Straßennamen gesucht, den es nicht gab, hatte an jedem Verkehrskreisel gehalten, unverständliche Pläne studiert, und als er endlich sein Motorrad abstellte und den Helm absetzte, wäre er fast von einem heftigen Windstoß weggefegt worden. »Nein, was ist das denn? Seit wann quartiert man alte Leute in einem Windkanal ein? Ich dachte immer, daß ihnen der Wind den Kopf aushöhlt. Sagt, daß das nicht wahr ist. Daß sie nicht hier ist. Erbarmen. Sagt, daß ich hier falsch bin.«
Drinnen herrschte eine mörderische Hitze, und als er sich ihrem Zimmer näherte, spürte er, wie es ihm die Kehle zuschnürte, zuschnürte, zuschnürte, so daß er Minuten brauchte, bis er das erste Wort herausbekam.
All diese Alten, scheußlich, traurig, deprimierend, wimmernd, stöhnend mit ihren Latschen, ihren Gebissen, ihren Sauggeräuschen, ihren dicken Bäuchen und klapprigen Armen. Der eine mit einem Schlauch in der Nase, der andere, der in seiner Ecke vor sich hinheulte, und die Frau, die so zusammengekauert in ihrem Rollstuhl saß, als hätte sie gerade einen Wundstarrkrampf. Man konnte ihre Strumpfhalter und ihre Windel sehen.

Und diese Hitze, verdammt! Warum machten sie nicht die Fenster auf? Damit die Alten schneller abkratzten?

Als er das nächste Mal kam, hatte er seinen Helm bis zu Zimmer 87 aufbehalten, um all das nicht mehr sehen zu müssen, doch eine Krankenschwester hatte ihn erwischt und ihn aufgefordert, ihn umgehend abzusetzen, weil er ihre Schützlinge erschrecke.

Seine Oma hatte sich geweigert, mit ihm zu sprechen, jedoch seinen Blick gesucht, um ihm zu trotzen und ein schlechtes Gewissen zu bereiten: »Na? Bist du stolz auf dich, Kleiner? Antworte mir. Bist du stolz auf dich?« Das wiederholte sie stumm, während er die Gardinen hochhob, um nach seinem Motorrad zu sehen.

Er war zu aufgewühlt, um schlafen zu können. Er zog den Sessel näher ans Bett, suchte nach Worten, nach Sätzen, nach Anekdoten, nach irgendwelchem Stuß, den er erzählen konnte, und schaltete dann, kriegsmüde, den Fernseher ein. Er sah sie nicht an, er betrachtete die Wanduhr hinter ihr und zählte ab: In zwei Stunden mach ich die Fliege, in einer Stunde mach ich die Fliege, in zwanzig Minuten...

Diese Woche war er ausnahmsweise sonntags gekommen, weil Potelain ihn nicht brauchte. Er hatte im Eiltempo die Eingangshalle durchquert und nur mit den Achseln gezuckt, als er die neue, viel zu grelle Dekoration bemerkte und all diese armen Alten mit ihren spitzen Hüten.
»Was ist denn hier los, ist heute Karneval?« hatte er die Dame im Kittel gefragt, die mit ihm zusammen im Fahrstuhl fuhr.
»Wir proben eine kleine Aufführung für Weihnachten. Sie sind doch der Enkel von Madame Lestafier, nicht wahr?«
»Ja.«
»Ihre Großmutter ist nicht sehr kooperativ.«
»So?«
»Nein. Und das ist noch freundlich ausgedrückt. Ein richtiger Sturkopf.«
»Ich dachte, so sei sie nur mit mir. Ich dachte, bei Ihnen wäre sie... hm... pflegeleichter.«
»Nein, zu uns ist sie charmant. Eine richtige Perle. Überaus liebenswürdig. Mit den anderen läuft es nicht gut. Sie will sie nicht sehen und ißt lieber nichts, als in den Gemeinschaftssaal zu gehen.«
»Wie? Sie ißt nichts?«
»Tja, wir haben schließlich nachgegeben. Sie bleibt in ihrem Zimmer.«

Da sie ihn erst am nächsten Tag erwartet hatte, wurde sie von seinem Anblick überrascht und hatte nicht mehr die Zeit, das Kostüm der gekränkten Alten überzustreifen. Ausnahmsweise lag sie nicht böse und stocksteif im Bett, sie saß am Fenster und nähte.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 31.10.2005