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Europäische Union nicht als Superstaat

Verheugen will in Brüssel Bürokratie abbauen -ÊVortrag beim 25. OWL-Unternehmertag

Von Bernhard Hertlein
Bielefeld (WB). Europa muss Abschied nehmen von der Idee eines europäischen »Superstaates«. Die Nationen haben und behalten ihre Bedeutung. Dies ist nach Ansicht Günter Verheugens (SPD) ein Ergebnis der Krise, die das Nein der französischen und niederländischen Bevölkerung zur europäischen Verfassung ausgelöst hat.

Der Vizepräsident der europäischen Kommission, in Brüssel zuständig für Unternehmen und Industrie, war am Samstag Hauptredner beim 25. OWL-Unternehmergespräch in der Bielefelder Stadthalle. Trotz des Termins am Ende eines aufregenden Wahlkampfes folgten mehr als 700 Vertreter der Wirtschaft der Einladung von 15 Organisationen. Sie erlebten einen Verheugen, der sich jedes Kommentars zum Wahlkampf enthielt und stattdessen dafür warb, Bürokratie in Europa abzubauen und alle Gesetze auf ihre Kosten für Wirtschaft und Allgemeinheit zu überprüfen.
Verheugen ist sich durchaus bewusst, »dass ich nicht der erste bin, der sich vornimmt, Bürokratie in Europa abzubauen.« Dass die neue Kommission unter José Manuel Barroso es trotzdem ernst meine, zeige sich daran, dass sie von 100 Gesetzen, die die Vorgänger-Kommission von Romani Prodi auf den Weg gebracht, aber nicht mehr vollendet hat, bereits mehr als 70 aus dem Verkehr zog. Dass dies nicht ohne Probleme geschehe, sei klar. »Verwalter der politischen Kleingärtnerei«Êgebe es im übrigen auch bei Unternehmern, »die sich sonntags für weniger Reglementierung einsetzen und montags ganz eine spezielle, dringende Vorschrift fordern«.
Der SPD-Politiker, der seine politische Karriere bei der FDP begann und dabei unter anderem in Minden für den Bundestag kandidierte, lobte die EU als »großes Friedensprojekt«, das sich neuen Herausforderungen stellen müsse. An erster Stelle nannte Verheugen die Folgen des technologischen Fortschritts insbesondere in Information und Kommunikation, die Globalisierung und den demografischen Wandel.
Die Globalisierung sei den Europäern nicht aufgezwungen, sondern von ihnen selbst herbeigerufen. Verheugen: »Nun müssen wir uns auch dem Wettbewerb stellen.« Chancen gebe es im Dienstleistungssektor, allen voran im Gesundheitsbereich. Dagegen gebe es in der Industrie noch so große Produktivitätsreserven, dass hier kurzfristig nicht mehr Arbeitsplätze zu erwarten seien. Obwohl schon jetzt Jung-Ingenieure aus Deutschland mit Chinesen konkurrierten, könne man nicht versprechen, dass die Veränderungen aufhörten: »Der Strukturwandel wird weitergehen.«
Als alarmierend beschrieb Verheugen die Passivität, mit der Politiker in Mitteleuropa auf den demografischen Wandel reagierten. Eine alternde und zugleich schrumpfende Bevölkerung sie das denkbar schlechteste Szenario einer in Konkurrenz stehenden Gesellschaft. »Wenn wir nicht beschließen wollen, dass wir wir kollektiv aussterben, müssen wir endlich anfangen, eine kinderfreundliche Gesellschaft zu schaffen«, sagte Verheugen.

Artikel vom 19.09.2005