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1949 nur ein Extra-Mandat und Adenauers eigene Stimme

Der »Alte von Rhöndorf« prägte die Faustformel Mehrheit ist Mehrheit

Von Ulrich Scharlack
Berlin (dpa). Nach der Wahl könnte es im Bundestag ähnlich knapp werden wie heute vor 56 Jahren. Konrad Adenauer wurde am 15. September 1949 nur dank seiner eigenen Stimme zum Bundeskanzler gewählt.

Entscheidend war, dass die CDU damals ein Überhangmandat erzielt hatte. Nur so kam der »Alte« aus Rhöndorf auf die exakt notwendigen 202 Stimmen. Und Adenauers legendärer Satz »Mehrheit ist Mehrheit« dürfte auch 2005 wieder zu hören sein, genau so wie ihn Gerhard Schröder zuletzt 2002 gebraucht hat.
Auch diesmal können ganz wenige Bundestagssitze den Ausschlag geben: Reicht es für ein Bündnis aus Union und FDP? Oder muss Unions-Kanzlerkandidatin Angela Merkel eine große Koalition eingehen? Das Zünglein an der Waage werden, da sind sich die Experten einig, dürften nicht nur die »Nachwähler« aus dem stark beachteten Dresdner Wahlkreis I, sondern vor allem die Überhangmandate werden.
Entscheidend für die Sitzverteilung im Bundestag sind im Grundsatz die Zweitstimmen, die für die Parteien abgegeben werden. Die Bürger wählen mit ihren Erststimmen aber auch die Wahlkreiskandidaten. Die Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland durch die Erststimmen mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach dem Zweitstimmenanteil Sitze zustehen.
Die Direktmandate werden normalerweise mit den Sitzen, die über die Zweitstimmen gewonnen werden, verrechnet. Das Bundeswahlgesetz sagt aber, dass die siegreichen Wahlkreiskandidaten in jedem Fall ins Parlament einziehen dürfen.
Das kann sich durchaus auszahlen: In Brandenburg hätte die SPD 1998 nach den Zweitstimmen nur neun Sitze gewonnen. Da die Sozialdemokraten aber alle damaligen 12 Wahlkreise gewannen, entsandten sie auch 12 Abgeordnete in den Bundestag. Überhangmandate stabilisierten 2002 die hauchdünne rot-grüne Mehrheit. Die SPD gewann im gesamten Bundesgebiet vier solcher »Bonus«-Stimmen, die CDU nur eine.
Nur dank der Zusatz-Mandate konnte Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) die letzten drei Jahre überstehen. Ohne sie wäre es vermutlich schon früher zu einer Neuwahl gekommen.
Auch diesmal wird es wieder Überhangmandate geben. Die Union hofft auf fünf, insbesondere in Rheinland-Pfalz, Thüringen und Sachsen. Auch der Bamberger Politikwissenschaftler Joachim Behnke erwartet bis fünf Überhangmandate, »selbst wenn es für die Union schlecht läuft«.
Die Faustregel: Überhangmandate gewinnt, wer bei den Zweitstimmen einen großen Vorsprung vor der Konkurrenz hat. Union und SPD trennen auch nach den letzten Umfragenzwischen sieben und acht Prozentpunkte.
Auch für Andrea Wolf, Forschungsgruppe Wahlen, sind Überhangmandate am ehesten in Ost-Deutschland zu erwarten. Ihre Begründung: Dort treten drei annähernd gleich starke Parteien an, die bei den Zweitstimmen eng beienander liegen.
Um einen Wahlkreis zu erringen, genügen dort vielleicht schon 35 Prozent der Stimmen. Lange konnte davon ausgegangen werden, dass die CDU im Osten flächendeckend Wahlkreise gewinnen wird. Jetzt geht es hin und her. Der Wahlforschungsdienst Election.de macht dagegen der SPD Hoffnung. Sein Leiter Matthias Moehl spricht von einem Patt auch bei den Überhangmandaten von Union und SPD.
Eine Möglichkeit haben aber die Wunschpartner von Union und FDP noch. Die Liberalen können ihren Wähler kurz vor der Wahl signalisieren, ihre Erststimmen flächendeckend den Unions- Wahlkreiskandidaten zu geben. In einigen Wahlkreisen Ostwestfalen-Lippes ist dies bereits geschehen.
Auch das Stimmensplitting begünstigt das Entstehen von Überhangmandaten, die für Merkel ähnlich wichtig werden könnten wie einst für Adenauer.
Fast vergessen ist heute auch, dass Adenauer sich damals nicht nur auf CDU/CSU und FDP verlassen musste, sondern auch noch die Deutsche Partei (DP) mit in seine Koalition einband, damit es im Kopf-an-Kopfrennen reichte.

Artikel vom 15.09.2005