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Das Wort zum Sonntag

Von Pfarrer Hans-Jürgen Feldmann


Noah - das ist der Mann, der auf Gottes Befehl eine Arche baut, eine Art Schiff ohne Steuer, in dem er selbst mit seiner Familie sowie mit je einem Paar aller Tierarten Zuflucht nehmen soll, um vor der Sintflut, einer Überschwemmung globalen Ausmaßes, gerettet zu werden. Die Bibel erzählt darüber im 1. Buch Mose (Genesis), Kapitel 6 bis 8.
Ein Spaßvogel unserer Zeit hat diese Geschichte in die Gegenwart übertragen und nachgewiesen, daß es heutzutage nicht mehr möglich gewesen wäre, eine solche Arche überhaupt erst zusammenzuzimmern. Noah wäre schlicht und einfach an den unzähligen Verwaltungsvorschriften gescheitert, die sich einem so ungewöhnlichen Unterfangen in den Weg stellen. Langwierige Genehmigungsverfahren, seitenlange Antragsformulare, Bestimmungen des Tierschutzes, Richtlinien der Forstwirtschaft und vieles mehr hätten den Mann ermüdet, noch bevor er auch nur ein einziges Brett hätte sägen und zuschneiden können. Am Ende gibt selbst Gott sein Vorhaben, das Leben auf der Erde zu vernichten, entnervt auf. Halb ungläubig fragt Noah: »Herr, du wirst die Erde doch nicht zerstören?« »Da sprach der Herr: âDarum sorge ich mich nicht mehr, das schafft schon eure Verwaltung!Ô«
Doch Spaß beiseite. Worum geht es in der Sintfluterzählung wirklich? In ihr wird der Gedanke einmal konsequent zu Ende gedacht und bis an sein schauerliches Ende ausgezogen, daß Gott die Menschheit ausrotten müßte, wäre er nur gerecht und ließe sich ausschließlich von seiner Gerechtigkeit leiten. Keinen Augenblick länger könnte Gott ertragen, was Menschen sich täglich im großen wie im kleinen zufügen und welcher teuflischen Gemeinheiten und unvorstellbaren Grausamkeiten sie dabei fähig sind. Das, so hätte er sich eingestehen müssen, habe ich nicht gewollt, als ich ihnen die Freiheit ließ, sich über meinen Willen hinwegzusetzen und ihren eigenen Vorstellungen zu folgen.
Heute leben viele, besonders auch, wenn sie nicht mehr an Gott glauben, in solcher Angst, beherrscht von dem unguten Gefühl, so könne es nicht weitergehen, über kurz oder lang führe der Weg unausweichlich in den Untergang. Wie nah die Sintflutgeschichte der Gegenwart ist, muß man nicht erst mühsam nachweisen; es liegt auf der Hand und springt in die Augen.
Wer aber ist Noah in diesem Zusammenhang? Dieser, so ist zu erfahren, »war ein frommer Mann und ohne Tadel zu seinen Zeiten; er wandelte mit Gott« (1. Mose 6, 9). Er hätte also die einzige große Ausnahme gebildet inmitten des moralischen Sumpfes einer ansonsten völlig verderbten und verrotteten Menschheit. Er wäre damit um seiner selbst willen verschont geblieben, eben deshalb, weil er sich von allen anderen vorteilhaft abgehoben hätte. Aber ist das plausibel? Ein einziger sollte sich seine blütenreine weiße Weste bewahrt haben und nicht auch in irgendeiner Weise in den Sog der allgemeinen Schuldverstrickungen hineingeraten sein? Da sind Fragezeichen angebracht.
Aber die Geschichte selbst gibt ja noch eine andere Auskunft. Sie ist nämlich aus einer ursprünglich älteren und einer jüngeren Fassung zusammengewachsen. In der älteren Version ist jedoch von Noahs Untadeligkeit noch nicht die Rede. Vielmehr heißt es darin nach dem Vernichtungsbeschluß Gottes: »Aber Noah fand Gnade vor dem Herrn« (1. Mose 6, 9). Es fällt somit kein Wort über Noahs Vorzüge. Das Motiv, diesen und damit das Leben der Menschheit zu bewahren, liegt allein bei Gott und nicht etwa in Noahs Lebensführung.
Daß es Leben gibt bis heute - so die Botschaft - und daß dieses Leben trotz aller Bosheit und durch alle Strafgerichte Gottes hindurch bewahrt wird, hat seinen Grund allein darin, daß Gott eben nicht nur gerecht, sondern vor allem barmherzig ist, daß er ein Herz für seine Geschöpfe hat. Denn wäre Gott nur gerecht, so hätten die Menschen ihr Lebensrecht verwirkt.

Artikel vom 10.09.2005