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Neuwahl-Urteil stärkt Kanzlermacht

Bundesverfassungsgericht legt Gründe für Zustimmung ausführlich dar

Karlsruhe (dpa). Das Neuwahl-Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat die Macht des Kanzlers deutlich gestärkt, auf parteiinterne Auseinandersetzungen mit einer Auflösung des Bundestags zu reagieren.
Das geht aus der schriftlichen Begründung des Urteils hervor, mit dem das Karlsruher Gericht am 25. August die auf den 18. September vorgezogene Wahl gebilligt hatte.
Danach kann die Behauptung des Kanzlers, er habe keinen dauerhaften Rückhalt in den eigenen Reihen mehr, vom Bundespräsidenten und vom Gericht nur eingeschränkt überprüft werden. Denn der verdeckte Entzug des Vertrauens lasse sich in einem Gerichtsverfahren nicht ohne weiteres feststellen, heißt es in der jetzt bekannt gewordenen Begründung.
Nach Angaben des Zweiten Senats steht dem Kanzler bei einer »verdeckten Minderheitssituation« - also wenn er trotz äußerlicher Unterstützung sein politisches Konzept nicht mehr durchsetzen kann - der Weg zur Neuwahl über eine »auflösungsgerichtete Vertrauensfrage« offen.
Weil Politik auch hinter den Kulissen stattfindet, gewährt ihm das Gericht hier einen weiten Einschätzungsspielraum: »Was im politischen Prozess in legitimer Weise nicht offen ausgetragen wird, muss unter den Bedingungen des politischen Wettbewerbs auch gegenüber anderen Verfassungsorganen nicht vollständig offenbart werden.«
Der politische Willensbildungsprozess sei zulässigerweise auch von taktischen und strategischen Motiven geprägt. Eine volle richterliche Aufklärung würde diesem Prozess Schaden zufügen, argumentiert der Senat.
Verfassungsrichter Hans-Joachim Jentsch, der als einziger der acht Senatsmitglieder gegen die Neuwahl gestimmt hatte, wirft seinen Kollegen ein »unzutreffendes Verständnis des parlamentarischen Vertrauens« vor. »Unterstützung des Kanzlers bedeutet, dass der Abgeordnete dort, wo es darauf ankommt, wo über parlamentarische Vorhaben entschieden wird, bei den Abstimmungen im Deutschen Bundestag also, zum Kanzler und seinen Vorhaben steht«, heißt es in seinem abweichenden Votum.
Inhaltlicher Dissens gehört laut Jentsch zum Wesen der innerparteilichen Demokratie und sei Teil eines diskursiv angelegten parlamentarischen Regierungssystems. Entscheidend seien die Abstimmungen im Bundestag - die Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) auch bei den entscheidenden Reformprojekten stets gewonnen habe.
»Eine weitergehende 'Unterordnung' oder 'Gleichschaltung' mit den Vorstellungen des Kanzlers ist nicht erforderlich und im ausbalancierten System des Grundgesetzes mit der Figur des freien Abgeordneten auch nicht vorgesehen.«
www.bundesverfassungsgericht.de

Artikel vom 07.09.2005