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Von Tür zu Tür, hieß es offiziell. Wie Handelsvertreter, nur dass sie nichts zu verkaufen hatten. Mrs. Maddox hatte uns ihr Kommen schon telefonisch angekündigt - »Sie gehen jetzt in deine Richtung, Lou! Sei bereit!« -, und von dem Augenblick an dachte ich an die Heuschrecken, die wir in der Schule durchgenommen hatten, wie sie in riesigen Wolken über Städte und Felder herfielen und die Ernte ruinierten, so dass die Menschen hungers starben. Ich hatte das Gefühl, dass die Polizei etwas war, worauf man sich vorbereiten musste. Die Schränke sollten wohl gefüllt, die Fenster geschlossen sein. Ich hielt den Atem an und sah ihnen vom Viehgatter her entgegen.
Wie in allen anderen Dingen auch stand Pencarreg auf ihrer Liste an letzter Stelle. Und wie alle Besucher waren auch sie außer Atem, als sie es schließlich bis herauf geschafft hatten.
»Warum sind Sie nicht gefahren?«, bemerkte meine Großmutter kühl. »Es ist weiter, als man glaubt - nicht wahr?«
Sie waren nicht so, wie ich es erhofft hatte. Nur einer trug Uniform. Der andere stand vor uns wie jeder beliebige Mann - graue Hosen, altes weißes Hemd mit welkem Kragen, Manschetten hochgekrempelt. Ein Geruch ging von ihm aus. Der Geruch nach erhitztem Mann - muffig, stark, fast wie ein Tier. Er hatte einen rötlichen Schnurrbart, der mich an einen Besen erinnerte, und hängende Augenlider. Er bedachte uns mit einem knappen, professionellen Lächeln - mit zusammengepressten Lippen und unsichtbaren Zähnen.
»Guten Tag. Wir sind -«
»Ich weiß, wer Sie sind«, sagte meine Großmutter. »Ich stelle Wasser für den Tee auf.«
In meinen Socken über die Steinfliesen schlitternd, folgte ich ihnen in die Küche. Beide Männer waren groß, aber der zweite war jünger - viel jünger. Er musste in Daniels Alter sein, vermutete ich, vielleicht sogar jünger. Sein Haar war sauber gekämmt und sehr blond. Strohgelb.
Der ältere Polizist bemerkte mich in der Tür. Sein Blick gefror, wie das hier meistens geschah. »Das muss wohl É?«
»Ja«, sagte meine Großmutter. »Ganz richtig. Das ist Evangeline. Evie, sag Inspektor Gregory guten Tag.«
»Chef«, sagte er, »Inspektor.«
»Chefinspektor schon? Du meine Güte.«
Ich schielte zu ihr hinüber. Warum so bissig? Sie warf Teebeutel in die Kanne. »Kennst du ihn?«, fragte ich.
Das Klirren von Porzellan. »Aus längst vergangenen Zeiten. Jetzt lauf mal los und hol die Männer her. Ja? Versuch es beim Laufgang für die Schafe. Sag ihnen, dass die Polizei da ist - nur ein paar Routinefragen É«, ergänzte sie trocken.
Ich ging nur ungern - welche Achtjährige wäre nicht lieber geblieben? Also schoss ich wie der Blitz zum Laufgang für die Schafe hinauf. Der Kies im Hof bohrte sich durch meine Socken.
»Großpapa!«, schrie ich. »Die Polizei ist da!«
Drei Köpfe hoben sich mir entgegen.
Wie ich geahnt hatte, wurde ich von meinen Großeltern aus dem Haus verbannt. Erwachsenensache, erklärten sie mir; ich sollte draußen warten, bis sie wieder weg wären. Geh rauf zum Rhabarberbeet, sagte meine Großmutter, aber nicht weiter. Aber beim Rhabarberbeet gab es nichts Interessantes für mich. Ich überlegte, welche Möglichkeiten ich hatte. War das Küchenfenster offen? Bei dem Wetter musste es offen sein. Ich schlich hinaus und verkroch mich zwischen den steifen Zweigen des Hortensienstrauchs. Nicht das beste Versteck - aber ein recht guter Platz zum Lauschen.
»Wir wüssten nur gerne, wann ihr Rosemary zum letzten Mal gesehen habt«, sagte der ältere Polizist. »Wann und wo. Wenn das nicht zu viel Mühe macht.«
Kurzes Schweigen. Sogar ich überlegte ein paar Sekunden - wann hatte ich sie zum letzten Mal gesehen? In der Schule vermutlich. Über den Schulhof schlendernd. Perfekt frisiert.
Ich hörte Lewis brummen und dann sagen, dass er keine Ahnung habe.
Mein Großvater meinte, vielleicht damals, als die Kühe die Fußfäule gehabt hatten und sie mit einem Kuchen in unserem Hof erschienen war. Vor etwa drei Monaten. »Seitdem hab ich sie nicht mehr gesehen.«
Meine Großmutter aber hatte sie gesehen - auf der Straße unter unseren Linden. »Vorige Woche.«
»Können Sie sich erinnern, wann genau?«
Ich stellte mir vor, wie sie ihn scharf ansah und auf ihren Tee blies. »Ja. Am Donnerstag. Nachmittag. So um drei. Ich bin an ihr vorbeigefahren. Auf dem Weg zu Dr. Matthews. Kopfschmerzen, wenn Sie das auch wissen müssen.«
Donnerstag, dachte ich. Aber das war ein Schultag gewesen. Hatte Rosie die Schule geschwänzt?
»Nur auf der Straße, sagen Sie?«
»GibtÕs hier ein Echo? Nächste Frage.«
Jemand räusperte sich. »Wissen Sie, warum sie hier oben auf der Straße war, Mrs. Jones? Wie Sie selbst gesagt haben, ist es weiter, als man glaubt. Warum ist sie wohl hier raufgekommen?«
»Raufgefahren meinen Sie.«
»War sie denn auf ihren Rollschuhen?«
»Ttt«, machte sie missbilligend. »Und in einem Rock, wie es winziger nicht mehr geht.«
Eine Weile herrschte Schweigen. Ich hörte einen Kugelschreiber über Papier gleiten. Warum war Rosie hier oben gewesen? Was hatte sie hier gesucht? Nicht mich. Ich trampelte auf Herzen herum. Ich war nicht vertrauenswürdig. Wen also? Ich glaube, ich wusste die Antwort, bevor ich sie hörte. Ich glaube, ich wusste sie ganz genau.
»Hören Sie«, begann meine Lieblingsstimme. »Ich É«
»Sie war in Daniel verknallt«, sagte meine Großmutter. »Deshalb. Deshalb war sie draußen auf der Straße und hat ihre Beine vorgezeigt. Deshalb das alberne Getue, sooft sie ihn sah.«
Mein Herz machte einen Sprung.
»Stimmt das?«
Durch das Fenster, durch die papierenen blauen Hortensienköpfe hörte ich Daniel ja sagen. Ja, es werde wohl stimmen. Ja, es hatte so ausgesehen, als hätte sie É eine Schwäche für ihn É als würde sie É für ihn schwärmen. Seit Monaten schon. Aber es sei natürlich klar, dass er sie nicht ermutigt habe. Er habe einfach getan, als wäre nichts. Wenn er sie die Straße heraufkommen hörte, habe er sich gleich an irgendetwas zu schaffen gemacht, denn was hätte er sonst tun sollen? Was könnte man denn schon tun gegen die Schwärmerei eines Kindes? »Ich bin sicher«, sagte er, »dass es im Lauf der Zeit vorübergegangen wär. Nur so eine Phase.«
»Eine verdammt lange«, murmelte meine Großmutter.
Hätte ich mich in diesem Augenblick ungeachtet eines drohenden Donnerwetters dazu entschlossen, aufzustehen und mein Versteck preiszugeben, mich umzudrehen und geradewegs in die Küche zu spähen, hätte ich sie mit Sicherheit alle wie Marionetten nicken sehen. Es war ja durchaus verständlich. Er war wirklich hübsch. Er hatte braune Haare und sanfte Augen, ein liebenswertes Lächeln, und Rosie sah um so vieles älter aus, als sie war. Warum hätte er ihr nicht gefallen sollen? Wie hätte er ihr nicht gefallen können? Und wenn ich einen Mann liebte, warum sollte ihn nicht eine andere auch lieben?
Die Blumen, dachte ich plötzlich.
Sie hat die Blumen gebracht.
»Aber nur damit Sie es wissen und damit Sie sich die Frage sparen können«, schnauzte meine Großmutter, »er war an dem Tag mit Evie zusammen.«
»Lou, das ist doch nicht nötig É«
»Am 14. Sie waren schwimmen, oben beim See. Sie waren den ganzen Nachmittag dort. Evie kann es bestätigen. Fragen Sie sie, wenn Sie wollen. Ich habe nichts dagegen. Sie ist draußen. Soll ich sie rufen? Würde Ihnen das bei Ihren Untersuchungen helfen?«
»Nicht nötig. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Aber danke.« Ein Stuhl wurde zurückgeschoben. »Das genügt einstweilen, Mrs. Jones.«
Aus meinem Versteck im Hortensienbusch sah ich die Polizisten gehen. Sie gingen mit müden Schritten. Beide hatten sich ihre Jacken über die Schultern geworfen, einer schlug nach den Mücken. Was für ein trauriger Job, dachte ich, nach toten Menschen zu suchen. Hatten sie ein gutes Zuhause, in das sie zurückkehrten?
Ich schloss die Augen und lehnte mich an die Backsteine. Die Hitze des Tages war in ihnen.
»Unglaublich«, sagte meine Großmutter. »Derselbe Mann! Erinnerst du dich an ihn? Du lieber Gott! Wenn er einen 1,80 großen rothaarigen Iren mit blutigen Knöcheln und einem Sack voller Bargeld nicht finden kann, wie zum Teufel will er dann eine kleine Zwölfjährige finden?«
Ich hörte das Klirren von Porzellan, als sie die Tassen in die Spüle warf.
Daniel. Ich würde für ihn lügen, wenn es nötig wäre, ich würde alles tun. Auch wenn er nicht mit mir zusammen gewesen wäre, auch wenn er zu der Zeit, als Rosie entführt wurde, nicht durch das stille braune Wasser des Waldsees geschwommen wäre, ich hätte es ihnen nie gesagt. Ich hätte mir eine wunderschöne Lüge ausgedacht. Ich hätte meine Hand auf die Bibel gelegt und geschworen, mit unschuldigen Augen und ohne zu zögern.
Er sagte bloß: »Man kann nie wissen, Lou.«

Er hat Recht - man kann nie wissen. Die Zufälle, die Ironien, die Wendungen des Schicksals.
Es hat nichts mit Rosies Verschwinden und allem, was in diesem Sommer noch kommen sollte, zu tun. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 07.09.2005