25.08.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

»Jessicas Tod ein Stich
ins Herz Hamburgs«

Eltern ließen Siebenjährige qualvoll verhungern

Hamburg (dpa). Sie wirkt nicht wie die gefühlskalte Frau, die ihre Tochter in ein dunkles Zimmer einsperrte und qualvoll verhungern ließ. Als die Mutter von Jessica den Gerichtssaal betritt, weint sie.
Plüschtiere und Kerzen am Grab der Jessicas, die vor ihrem Tod ein Martyrium durchlitt.
Die hellgraue Kapuze ihrer Sportjacke, die sie sich über den Kopf gezogen hat, kann das Gesicht nicht ganz verdecken. Stumm und zitternd sitzt die 36-Jährige an ihrem Platz, wischt sich Tränen ab und zieht die Kapuze vom Kopf. Sie starrt auf ihre Hände, als der Staatsanwalt vor dem Hamburger Landgericht die Mordanklage gegen eine Mutter und einen Vater verliest, die ihre siebenjährige Tochter »durch böswillige Verletzung ihrer Fürsorgepflicht« umgebracht haben sollen.
»Meine Mandantin wird sich zu ihrer Schuld bekennen«, sagt der Verteidiger der Mutter - zu der Verantwortung dafür, dass ihre kleine Tochter unbemerkt von den Nachbarn in einer Hochhaussiedlung in Hamburg-Jenfeld ein kaum vorstellbares Martyrium erleiden musste. Dass sie so wenig zu essen und zu trinken bekam, dass die Siebenjährige bei ihrem Tod am 1. März auf 9,6 Kilo , abgemagert war - zweijährige Kinder wiegen normalerweise schon mehr.
Jessicas Vater, dessen weißes Sweat-Shirt die ungesunde Blässe des Gesichtes noch unterstreicht, will nichts zu den Vorwürfen sagen. Also auch nicht dazu, dass er laut Anklage an einem Lichtschalter in Greifhöhe für seine Tochter einen Draht angebracht hat, »in Erwartung, dass Jessica ihn berühre und an einem Stromschlag sterbe«. Er habe eine »äußerst passive Grundhaltung«, zitiert seine Anwältin aus einem psychiatrischen Gutachten über den Angeklagten. Eine Aussage vor Gericht sei unzumutbar für ihn. »Er schafft es einfach nicht.«
»Dieses Verfahren steht unter einem enormen Druck«, sagt der Vorsitzende der Großen Strafkammer. Natürlich müsse die Presse über den Fall Jessica berichten. Doch es sei ungewöhnlich, wenn unmittelbar vor Beginn des Verfahrens Tatortfotos, Einzelheiten aus den Ermittlungsakten oder Interviews mit Zeugen veröffentlicht würden - eine Belastung für das Gericht, das klären muss, warum eine mehrfache Mutter und ihr Partner die gemeinsame Tochter laut Anklage »grausam ermordet« haben. »Nicht in der Presse, sondern hier im Gerichtssaal wird entschieden, wer für den Tod von Jessica verantwortlich ist«, stellt der Richter klar.
Den beiden Angeklagten droht eine lebenslange Haftstrafe. »Es soll ein gerechtes Urteil geben«, sagt der Verteidiger. »Ein Stich in das Herz dieser Stadt« sei das tragische Schicksal Jessicas. Ein Stich auch für die städtischen Behörden, über deren Mitverantwortung der Bürgerschaftsausschuss »Vernachlässigte Kinder« diskutiert. Aus dem Urteil für Jessicas Eltern müsse aber etwas gelernt werden »für die Kinder, die nicht auf der Sonnenseite stehen«.

Artikel vom 25.08.2005