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Aus dem Nichts aufgetaucht, mit wilden Haaren, altklug und wie ein Junge gekleidet, forderte ich mit trotzigem Gesicht Freundschaft von ihm. In gewisser Hinsicht ein vertrauter Anblick.
Er war nicht verrückt. Nicht ein bisschen. Natürlich behaupten die Leute das gerne - es ist eben eine bessere Geschichte. Es spricht die dunkle Seite im Menschen an, zu behaupten, er wäre ein gefährliches Wrack gewesen. Aber er war weiter nichts als ein ruhiger, müder, nachdenklicher Mann, der sich alles, was er wusste, selbst beigebracht hatte, der keine Familie mehr hatte und der es zufrieden war, die Einwohner von Cae Tresaint glauben zu lassen, was sie wollten. Er war viel klüger als die meisten von ihnen, daran besteht kein Zweifel. Wer sonst wusste schon, dass Knöterich Blasen auf der Haut hervorrufen kann, dass es den Wasserspeier gab, oder dass ein Wolkenschleier über der Sonne Regen ankündigte? Das alles hat er mir erzählt und noch vieles mehr. Ihm verdanke ich es, dass ich mich mit Blumen auskenne. Er gehörte mehr zu Cae Tresaint als sie alle miteinander.
Obwohl er über ihre Bemerkungen nur die Achseln zuckte, glaube ich doch, dass sie ihn verletzt haben. Kein Panzer, und sei er noch so dick und alt, ist ohne Risse. Ich glaube, dass er sich insgeheim für das schämte, was er war. Ich glaube, dass er im Innersten zürnte über das Leben, das ihm beschieden war. Was hätte er sein können, wenn es anders gekommen wäre? Er war nicht hässlich unter dem dunkelroten Fleck. Sein Lächeln hatte etwas eigenartig Verstohlenes, es war fast hübsch. Er ging verlassene Wege und lebte sein Leben auf andere Weise. Das war alles.
Ja, er hinkte. Was niemand mir gesagt hatte - was nicht einmal Mrs. Maddox wusste -, es hatte nichts mit dem Tritt an den Kopf zu tun. Er war gestürzt, nicht lange nachdem seine Mutter gestorben war, und hatte sich den Knöchel gebrochen. Von einem Baumstamm herunter, teilte er mir gelassen mit. Er hatte es niemandem gesagt. Keine Schmerztabletten, keine Bettruhe, kein Gips. Es dauerte Monate, aber schließlich heilte es von selbst. Nicht richtig natürlich - daher das Hinken. Er hatte diese Härte an sich.
Es ist auch wichtig, zu erwähnen, dass er immer freundlich zu mir war. Er heiterte mich auf. Und manchmal betrachtete er mich, als wäre ich hübsch. Das hatte vor ihm noch keiner getan, und es gefiel mir.
Billy war weder verrückt noch ein Unhold. Er war ein guter Mann - egal, was die Bewohner von Cae Tresaint jetzt denken, egal, was für Geschichten sie ihren Kindern zur Abschreckung erzählen, damit sie nicht zu weit weglaufen und tun, was ihnen gesagt wird.

Wir gingen höflich und vorsichtig miteinander um bei diesen ersten Treffen. Ich strich um ihn herum wie die Katze um den heißen Brei und wartete den rechten Augenblick ab. Aber gerade als ich ihm langsam näher kam und anfing, ihm vorsichtig auf den Zahn zu fühlen, wurde unseren Treffen ebenso plötzlich ein Ende gesetzt, wie sie begonnen hatten. Ich hatte schlecht geplant. Wie jeden April begannen abends wieder die Amseln zu singen, Bäume und Sträucher trieben klebrige Knospen hervor, und ich musste in die Schule.
Das kam mir natürlich höchst ungelegen, aber wann kommt einem die Schule schon gelegen? Ich hatte mich an meine neue Lebensweise gewöhnt - Tage auf dem Markt, Wanderungen zum Tor-y-gwynt, Kirchenbänke abstauben. Ich hatte Schwielen an den Händen vom Schaukeln auf den Zäunen. Ich hatte gelernt, nach den Hunden zu pfeifen, und sie folgten mir aufs Wort. Und die Lämmer waren inzwischen eine Augenweide und hüpften auf den Weiden herum, wie es sich für Lämmer gehört.
Eine Weile hatte ich gehofft, dass das Leben in Wales eben so sei - keine Schule; Kinder durften sich ungestört Verstecke im Farn bauen und die Gegend erkunden. Aber im Innersten wusste ich, dass es nicht so war. Ich hatte Rosie in ihrer Schultracht gesehen und auch den Schulbus bemerkt, der zweimal am Tag zum Kriegerdenkmal hinunterrumpelte. Aber ich hielt weiter die Daumen. Vielleicht würde ich eine Ausnahme sein. Lewis lachte mich aus, als ich es ihm einmal sagte. Dumm nannte er mich. Nicht so dumm wie du, antwortete ich ihm.
Doch eines Abends, nicht lange nach Ostern, als ich auf dem Hinterrad des Traktors saß und zusah, wie die Zwergfledermäuse durch den Hof segelten, rief meine Großmutter mich früher als gewöhnlich ins Haus. Ich runzelte die Stirn; es war noch nicht Zeit zum Schlafengehen. Dann sank mir das Herz. Ich schlich ins Wohnzimmer, drückte mich neben dem Sofa herum und kaute an den Nägeln, als sie mir die Neuigkeit mitteilten. Diese Monate des Radschlagens und Versteckenspielens, in denen höchstens ein Nesselausschlag meine Laune trüben konnte, waren mir gegönnt gewesen, um mich einzuleben, mich zu erholen, und sie gingen davon aus, dass ich mich inzwischen eingelebt hatte. Ich sei so weit. Es wird Zeit, sagte mein Großvater. Zurück in die Tretmühle. Zurück in die wirkliche Welt, cariad.
Eine Weile versuchte ich, mich dagegen zu wehren. Zwei Abende später marschierte ich hinunter und teilte ihnen mit, dass ich bereits alles wüsste, was ich brauchte. Die Schule, sagte ich, wäre zu nichts gut - was sollte ich mit Geschichte? Wozu brauchte ich Französisch? Oder die blöde Mathematik? Was brauchte ein Mädchen zu wissen, was es nicht auf dem Hof lernen konnte? Ich gab mir große Mühe, sehr klug zu klingen. Ich benutzte die größten Wörter, die ich kannte, und riss dabei weit die Augen auf, weil Mrs. Willis einmal gesagt hatte, diesem Blick könnte keiner widerstehen.
Sie hörten mir zu, aber umstimmen konnte ich sie nicht. Meine Großmutter meinte, es wäre an der Zeit, dass ich unter die Leute käme; mein Großvater blickte von seiner FarmerÕs Weekly auf und erklärte, dass kein Mädchen sich ohne das große Einmaleins durchs Leben schlagen könnte, was gemein war, weil er wusste, dass ich schon bei elf mal elf stecken blieb. Ich war wütend. Ich erklärte ihnen, dass ich einfach nichts lernen würde, dass die Bazillen und Kopfläuse und die stickige Luft mich umbringen würden, und dann würde es ihnen Leid tun.
An diesem Abend kam Daniel oben auf dem Berg zu mir, und eine Weile standen wir schweigend nebeneinander. Er zeigte hinauf zu den Sternen. »Siehst du das?«, fragte er und deutete auf ein Sternbild. »Das ist der Große Wagen. Auch Großer Bär genannt.«
Ich schniefte und starrte hinauf. Und jetzt noch, wenn ich diese Sterne über dem Scheunendach hängen oder sich im Wassertrog spiegeln sehe, spüre ich die Enttäuschung.

Es war ein neuer, eigenartiger Kummer. Er trieb mich zum Herumwandern. Da ich Billy nicht finden konnte, ging ich ganz allein zur Fichtenschonung und schlurfte durch den Nadelteppich. Ich dachte, ich hätte am Ende des Pfades den Mann mit den grünen Augen gesehen, wie er sich unter den Zweigen durchduckte, aber das Licht dort war eigenartig, und vielleicht habe ich mich getäuscht.
In der letzten Woche meiner Freiheit entfernte ich mich weiter vom Hof als je zuvor. Ohne jemandem etwas zu sagen, machte ich mich auf den Weg nach Llanddewi Brefi, wo ich am späten Nachmittag eintraf. Ein verschlafenes, gemütliches Dorf - ich drückte mein Gesicht gegen Schaufensterscheiben, rollte mich auf der Steinbank im Eingang zur Kirche zusammen und hatte tiefes Mitleid mit mir. Danach kletterte ich zum Brefi hinunter und sah zu, wie er über die Steine gluckerte. Nimm mich mit, bat ich ihn, und die Krähen in den Bäumen klagten um mich. Als es finster wurde, meldete ich ein R-Gespräch an, und meine Großmutter kam die Straße heruntergerast, um mich zu holen.
»Dafür bist du mir eine Erklärung schuldig, junge Dame! Steig ein!«
Ich erklärte, indem ich die Achseln zuckte und mein Abendbrot stehen ließ.
»Woher sie wohl diese Sturheit hat«, sagte meine Großmutter murrend zu Daniel, als ich zum Schlafen hinaufging. Ich stellte mir vor, dass er lächelte.

Die Kühe zeigten mir ihr Mitgefühl auf ihre Art - süßer Atem, glänzende Augen, und als ich eines Abends von ihnen zurückkam, fand ich Daniel unter den Linden.
»Ich will das nicht«, erklärte ich ihm.
Er rollte sich langsam eine Zigarette, leckte das Papier ab. »Ich weiß. Aber du musst, Olwen.« Er zündete ein Streichholz an und empfahl mir, die Sache von der guten Seite her zu betrachten. »Die Schultracht von St. BartholemewÕs ist wenigstens nicht so schlecht.«
»Du musst sie ja nicht tragen«, antwortete ich.
Aber er hatte natürlich Recht - es hätte schlimmer sein können. In Birmingham hatte es eine Schule gegeben, in der die Mädchen Orange und Dunkelblau tragen mussten. Ich hatte es mit eigenen Augen gesehen - eine Bluse von der Farbe eines Fuchsschweifs, blauer Rock und beigefarbene Wollstrümpfe, in denen ihre Beine wie Würste aussahen und die für meinen Ausschlag bestimmt tödlich gewesen wären. Meine Mutter schüttelte milde den Kopf über sie. Wir sahen sie im Regen an unserem Haus vorbeizockeln oder mit hochgezogenen Schultern bei der Bushaltestelle warten, und immer sahen sie aus, als schämten sie sich.(wird fortgesetzt)

Artikel vom 25.08.2005