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Januarstürme schüttelten das Haus. In den Falten der Plane zeigten sich dunkle Pfützen, die Nesseln lagen vom Regen platt gedrückt auf dem Boden, und eines Nachmittags, als ich offiziell wieder gesund war, zogen Daniel und ich uns die Anoraks über und gingen hinunter nach Cae Tresaint, um Tee für meine Großmutter zu kaufen.In Wahrheit ging uns der Tee nie aus - sie hatte sich das nur ausgedacht, damit wir Gelegenheit hätten, einander besser kennen zu lernen. Sie sah uns vom Treppenfenster nach, eine Hand auf die Brust gelegt.
In den Abflüssen gurgelte es.
Eine Weile gingen wir schweigend dahin.
»Erzähl mir von Birmingham«, sagte er. »Was vermisst du? Was hat dir da am besten gefallen?«
Das hatte mich noch keiner gefragt. Ich runzelte die Stirn. Ich musste erst ein wenig aufräumen in meinem Kopf, um unter rosa Glassternen, Kuhfladen und Wilfreds Gesicht die Dinge zu finden, die zur Stadt gehörten, als hätte ich sie in einen Kellerraum weggesperrt. Was vermisste ich? Züge. Den Spielplatz im Park. Fernsehen. Mrs. Willis natürlich, mein Fahrrad und die Zitronenbonbons aus dem Laden an der Ecke. Fish and chips zum Abendessen. In einem Bus auf dem Oberdeck zu sitzen. Ja, sogar die Schule ein bisschen. War es richtig, solche Dinge zu vermissen? Ich schielte ihn von der Seite an. Er sah nicht schockiert aus.
»Und Kühe hat es keine gegeben?«
Ich sah sein Schmunzeln. »Keine Kühe.«
»Na, das klingt ja, als wäre es ganz nett dort. Ich bin übrigens fast einmal hingefahren.«
»Nach Birmingham?«
Er nickte. »Als du geboren wurdest.«
»Und warum bist du dann doch nicht?«
Er zuckte die Achseln. »Deine Mutter war sehr beschäftigt, Evie. Sie hatte alle Hände voll zu tun. Mit dir, mit Arbeit, mit allem Möglichen. Außerdem bin ich nicht für die Stadt gemacht.« Er zwinkerte. »Im Grunde meines Herzens bin ich ein Junge vom Land, Evie. Darum bin ich hierher gekommen.«
»Auf den Hof?«
»Auf den Hof, nach Wales.«
»Bist du denn nicht aus Wales?«
Er lächelte. »Von der Grenze - so ungefähr. Hast du schon mal von den Malvern Hills gehört? Da komm ich her. Da lebt meine Familie.«
»Ist es schön dort?«
»Wunderschön.«
»Warum bist du dann hergekommen?«
Er überlegte eine Weile, duckte sich unter ein paar Zweigen durch, die Hände in den Taschen. »Wegen der reinen Luft, wegen der Weite der Landschaft. Das Leben hier« - er zuckte wieder die Achseln - »na ja, es passt offenbar besser zu mir.«
Ich war nicht ganz sicher, ob ich ihn verstand. Meine Mutter hatte sich manchmal in einer Warteschlange oder im Bus die Faust an die Stirn gepresst und gesagt: Ich brauche Luft. Ich kann hier nicht atmen. Und einmal sagte sie mir, dass sie den Himmel vermisse. Ich war sehr verblüfft. Ich blickte nach oben, um ihre Aussage zu prüfen.
»Mochtest du sie?«
Daniel sah mich an. »Sie mögen? Bronwen? Wie hätte man sie nicht mögen können? Sie war freundlich, klug, lustig. Weißt du, dass sie auf den Händen gehen konnte?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Wirklich. Stundenlang. Deine Großmutter sagt, dass sie einen ganzen Sommer verkehrt herum verbracht hat.«
Ich glaube, wir sahen in dem Augenblick beide das Bild vor uns, wie sie auf ihren schmalen Handgelenken, mit verwuscheltem Haar, die Straße hinunterwackelte.
Gerade als ich mich fragte, ob Daniel traurig aussah oder nicht, drehte er sich versonnen um und sagte: »Du vermisst die Zitronenbonbons? Bei Mr. Phipps gibtÕs die.«

Es gab sie wirklich. In seinem düsteren Dorfladen gegenüber der Kirche hatte Mr. Phipps eine Reihe von Glastöpfen auf dem Regal hinter dem Ladentisch stehen - außerhalb der Reichweite gieriger kleiner Hände wie meiner. Erwartungsvoll ließ ich meine Fingerknöchel knacken. Anisbonbons, Lakritze, Schokolimetten, Toffees. Die Gläser waren von Spinnweben überzogen. Daniel schüttelte sich die Nässe aus dem Haar, fuhr sich mit der Hand durch und sagte: »Ein Viertel von Ihren besten Zitronenbonbons, bitte.«
Mr. Phipps blickte mich zum ersten Mal an. Zum ersten Mal erwiderte ich den Blick. Und ich las von Anfang an darin, dass er etwas gegen mich hatte. Sein Gesicht war voller Runzeln. Eine Haut wie Speck. Eine rote knollige Nase.
»Soso«, sagte er.
Der Laden war verstaubt und schmal. Er sah aus, als hätte er dringend einen Generalputz nötig. Sicher gibt es hier Mäuse, dachte ich. Und manche seiner Konservenbüchsen waren vermutlich so alt, dass es einen Tag im Bett bedeutet hätte, ihren Inhalt zu essen. Sein Obst und Gemüse waren bekannt - schwärzliche Zucchini, Äpfel mit Löchern. Und in seinen Kartoffeln waren manchmal Larven.
Unter den Füßen knirschten tote Fliegen. Von irgendwo kam ein leises elektrisches Summen.
Daniel zählte sein Wechselgeld. Ich schob ein paar Konservenbüchsen zur Seite, um ihn besser sehen zu können. Er sprach vom Regen, von meinen Großeltern, vom Bergbau und wie es darum stand. Der Staub kitzelte mich in der Nase.
»Ich habe schon gehört von den Locken«, sagte Mr. Phipps.
Ich erstarrte. Wessen Locken? Meinen? Bestimmt meinen.
»Aber ich musste es erst mit eigenen Augen sehen. Um es zu glauben.«
»Wenn sie älter ist, werden sich die Jungs die Hälse nach ihr verrenken«, sagte Daniel. »Meinen Sie nicht?«
»Und Bronwen?«, sagte Mr. Phipps gedehnt. »Wo bleibt Bronwen in alldem?«
Pause. »Wir finden, dass sie die Augen ihrer Mutter hat.«
»Bronwen hatte braune Augen.«
»Die Form«, sagte Daniel, »die Form ihrer Augen.«
Ich hörte, wie sich eine Münze auf dem Ladentisch drehte und umfiel.
Mr. Phipps beugte sich über den Ladentisch. Mit einer Stimme dick wie Teer sagte er: »Hören Sie zu! Ich werde aufpassen. Das können Sie ihnen ruhig ausrichten. Ich werde sie nicht aus den Augen lassen, sagen Sie ihnen das. Einen falschen Schritt, hören Sie? Nur einen -«
Schweigen.
Ich verstand nicht.
Hinter vorgehaltener Hand hielt ich den Atem an.
»Evie?«, rief Daniel. »Macht es dir was aus, draußen zu warten?« Ich trat hinter den Büchsen hervor. Er sah mich freundlich an. »Nur einen Augenblick«, sagte er.
Ich nahm meine Zitronenbonbons und den Tee und ging hinaus in den Regen. Mrs. Hughes kam in einem gegürteten Regenmantel vorbei. Ihre Absätze klapperten die Straße entlang.
Dann sah ich einen mageren Mann aus einem weißen Haus treten, und als er mich bemerkte, kam er auf mich zu. Bore da, cariad, flüsterte er und lüftete einen unsichtbaren Hut. Evangeline, so heißt du doch? Er hatte kleine grüne Augen. Ich fühlte mich unbehaglich. Ich verzog die Lippen zu einem verlegenen Lächeln. Ich wollte allein sein.
Rotes Haar. Die Menschen hatten Vorurteile gegen Rothaarige. Meine Mutter hatte es ein Geschenk genannt, aber ich habe es nie als solches empfunden. Für mich war es ein Makel, ich konnte es nicht leiden. Es bedeutete, dass ich auffiel, und das wollte ich nicht. Auch in der Schule war es nicht leicht gewesen damit. Meine Hand fuhr in mein Haar und packte es. Ich dachte: Ihr sollt euch nicht locken.
Ich spazierte hinüber zum Kriegerdenkmal, wo künstliche Mohnblumen im Regen die Köpfe hängen ließen. Der Name meines Großonkels Duncan stand da. Ich fuhr mit dem Schuh darüber und fragte mich, wie er wohl wäre, wenn es ihn noch gäbe, wenn er auch auf dem Hof lebte. Ob er mich mögen würde? Ob er mir zeigen würde, wie man Ratten erschießt und auf Bäume klettert? Ich hockte mich hin und zog mit dem Finger die Buchstaben seines Namens nach. Der Stein war voller Vogelkot und Moos, und ich versuchte, beides herunterzukratzen. Nur einen falschen Schritt?
Ich sah meine Füße genau an.
Dann blickte ich auf.
Auf dem Friedhof stand eine Gestalt - eine Gestalt in einer dunkelgrünen Jacke, bis zu den Ohren in einen schmuddeligen grauen Schal gewickelt. Dünnes, farbloses Haar. Er schaute direkt zu mir her. Den Kopf zur Seite geneigt, die Augen riesige Tümpel. Er hatte die Hände ausgestreckt, als balanciere er.
Ich trat ein paar Schritte vor und sagte: »Hallo?«
Einen winzigen Augenblick lang sah ich es. Einen Schatten, einen verschwommenen Klecks, einen Fleck wie eine Brombeere auf der einen Seite des Gesichts. Vom Ohr bis hinauf zum Auge. Rötlich, dunkel. Aber bevor ich es benennen konnte, war er weg.
Die Nesseln neben dem Hintereingang schwankten eine Sekunde, dann standen sie wieder still.
Ich wusste, wer er war. Ich erkannte ihn an dem Mal. Ich stand im Regen, starrte auf den Fleck, wo Billy gestanden hatte, und wusste, er würde mein Geheimnis sein; irgendetwas Wichtiges hatte soeben begonnen.

* * *
Daniel bemerkte, wie still ich auf dem Heimweg war. Er erklärte mir, dass Mr. Phipps bloß eifersüchtig sei, weil er selber so wenig Haare hätte. »Und weißt du, wer Olwen war?«, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf.
»Sie war die schönste Frau von ganz Wales. Und weißt du, was noch? Sie hatte Haare wie du.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 12.08.2005