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Aber sie nadelte es meistens hoch oben auf dem Kopf zu einem strähnigen Knoten zusammen. Ich hätte gerne mein Gesicht in ihrem Haar vergraben und seinen Duft gerochen. Ich hätte sie gerne gefragt, ob es stimmte, dass alle Jones-Frauen mit der großen Zehe ihre Ohren berühren konnten, wie meine Mutter behauptet hatte.
Die Küche war der einzige Raum, in dem es keine dunklen Winkel gab. Überall sonst gab es Schatten, aber hier fiel das Licht unter die Schränke und füllte alle Ecken und Ritzen. Manchmal leierte das Radio auf dem Fensterbrett vor sich hin, ohne dass wirklich jemand hinhörte.
Meine Großmutter schien fröhlicher zu werden, wenn ich mich an ihren Tisch setzte.
»Evie!«, sagte sie dann lächelnd. »Was hättest du denn heute gern zum Abendbrot? Eintopf? Würstchen? Koteletts?«
Wir aßen meistens schweigend. Ich kratzte an meinem Ausschlag, sah mir diese Menschen an, mit denen ich jetzt zusammenlebte, und versuchte heimlich, die Katze unter dem Tisch zu füttern. Aber sie hatte kein Interesse. Hat sich wahrscheinlich den Bauch mit Mäusen voll geschlagen, dachte ich.
Manche dieser frühen Tage sind mir nur verschwommen in Erinnerung. Es kommt nichts, wenn ich mir die Daumen gegen die Schläfen drücke und mir bestimmte Zeiten ins Gedächtnis zu rufen versuche. Ich kann weder meine Müdigkeit noch meine Hormone dafür verantwortlich machen - so ist es immer schon gewesen. Ich habe Räume in mir, die ich nicht füllen kann, als hätte ich meinen Kopf für eine Weile versiegelt, wie man Fenster gegen Stürme mit Brettern vernagelt. Ich weiß, dass ich einmal die Treppe herunterfiel, aber ich sagte es niemandem und kann mich auch nicht erinnern, welcher Teil meines Körpers mir wehtat. Irgendwo hatte ich mich aufgeschürft, und die Stelle schmerzte nachts unter der Decke. Aber wo genau? Auch das Bild eines zerbrochenen Tellers kommt mir in den Sinn, aber wer ihn zerbrochen hat und wie es geschah, weiß ich nicht mehr.
Eines Tages war es zu nass, um irgendwohin zu gehen, also setzte mich meine Großmutter mit einem Keksstecher und Teigresten an den Küchentisch.
»Was machen wir?«
»Mince pie«, verkündete sie. »Magst du Mince pie?«
Ich war eine schlechte Helferin. Es gab zu viel zu sehen in der Küche in Pencarreg - Mince pie kam erst an dritter Stelle hinter dem gelben Becherständer, der wie ein kleiner Baum aussah, und der riesigen glasierten Forelle in einer Schachtel. Neben der Spüle stand ein Tiegel Handcreme, darüber hing ein Sieb, so groß wie mein Kopf, auf der Anrichte lagen Spielkarten mit schwarzen Rändern, und dann gab es noch ein Huhn aus weißem Porzellan, das betulich auf echten Eiern saß, an denen manchmal noch Federn hingen. Wenn meine Großmutter sich hinunterbeugte, hörte ich ihre Knie knacken. Es klang, wie wenn man ein Pillenfläschchen öffnet. Sie hatte immer Papiertaschentücher im Ärmel stecken, und wenn sie eines herausholte, um sich die Nase abzutupfen oder mir übers Gesicht zu wischen, roch es nach ihrer Handcreme - warm und zitronig, wie Biskuit.
»Wofür steht K?«, fragte ich sie. Aber sie schien es nicht zu hören.
Mein Großvater war tagsüber schwerer zu finden. Er ging aus dem Haus, wenn es draußen noch dunkel war, und kam manchmal erst zurück, wenn es schon wieder dunkel war. Er trieb sich in der Dämmerung in den Bergen herum, manchmal mit den Hunden, manchmal mit schattenhaften Gestalten, Männern, denen ich noch nicht begegnet war. Tiegel mit Creme für rissige Hände tauchten auf dem Fensterbrett auf. Auf den Weiden wurden Salzblöcke und Melasse ausgelegt. Die Mutterschafe müssten beaufsichtigt werden, sagte er, weil das Wetter schlecht sei und sich Füchse herumtrieben. Ich hörte sie in den Nächten bellen. Das war ein Laut, den ich kannte.
Wenn ich mit Abfällen aus der Küche zu den Kühen ging, sah ich ihn manchmal da oben im Zwielicht bei den Schafen, einen mageren Mann mit einer braunen Kappe und geradem Rücken. Er erinnerte mich an die Wäscheklammern aus Holz, die ich manchmal in den Hintergärten gestohlen hatte, um sie mit einem Filzstift zum Leben zu erwecken. Er war genauso dünn, hatte den gleichen runden Kopf. Aber die zumeist schon verwitterten Wäscheklammern begannen nach einer Weile zu splittern. Ich erwachte weinend aus seltsamen Träumen, in denen ich ihn über ein Gatter oder ein Heubündel gebeugt sah, und sein mit Filzstift gemaltes Gesicht zerfloss im Regen.

Heiligabend. Jetzt gehen wir gewöhnlich im Nieselregen zur Kirche hinunter, wo die ältlichen Chorsänger von Cae Tresaint unter Schirmen ihr Bestes tun und die Leute mich verstohlen betrachten. Aus den Laternen sind Taschenlampen geworden. Die Schar ist geschrumpft. Mr. Phipps hat seinen Laden inzwischen zugesperrt und ist Gott sei Dank verschwunden, aber früher hat er widerwillig die Pappbecher für den Glühwein ausgeteilt. Wirklich kein Mann, dem man Festtagslaune nachsagen konnte. Er hat mich immer für eine Ladendiebin gehalten. Eine Zeit lang begriff ich das nicht - warum gerade ich? Nie folgte er jemand anderem durch die Gänge; und nie wich er vor anderen zurück, wenn sie ihm zu nahe kamen. Aber inzwischen ist es mir klar. Die Schuld meines Vaters - wie das meiste, wie sich noch herausstellen sollte. Von all den griesgrämigen Gemütern im Dorf war seines das grämlichste und finsterste. Mr. Phipps schien zu glauben, dass kriminelle Anlagen erblich sind wie ein Stottern oder ein Schielen, oder in meinem Fall rotes Haar.
Ich habe dann letztlich wirklich gestohlen. Dass er mich verdächtigte, kam mir wie eine Herausforderung vor, und gehasst habe ich ihn sowieso immer; also steckte ich mir, als ich dreizehn war, eine Flasche Swn-Y-Mor-Whisky unter den Schulblazer und hatte auch noch die Stirn, mich zu bedanken, als ich aus dem Geschäft schlenderte. Gerry, mein Schulfreund, erstarb in Ehrfurcht vor mir. Ich war schamlos stolz. Wir betranken uns unter der Buche auf dem Friedhof und gossen den Rest des Beweises für die Elritzen in den Brych.
Ich glaube, Mr. Phipps ist nie dahinter gekommen. Jedenfalls hat er mich nie beschuldigt. Aber ich hatte meine Theorie bewiesen: Wenn jemand Schwierigkeiten erwartet, kriegt er sie am Ende gewöhnlich.

An diesem Heiligabend kamen keine Weihnachtssänger an die Tür. Es gab nur tiefe Nebel und warme Unterhemden, lautes Rauschen vom Fluss her, und ich dachte den ganzen Vormittag an mein früheres Zuhause. Ich hockte neben dem Hühnerstall und zupfte an meiner Haut. Ich versteckte mich vor meinem Großvater, aber er fand mich schließlich doch.
»Magst du mit hinaufkommen auf den Berg, cariad?«, fragte er.
Auf seinem vierrädrigen Motorrad, das einen Höllenlärm machte, fuhren wir durch Schlaglöcher holpernd und Sümpfen ausweichend zum Bergkamm hinauf. Er zeigte mir den herzförmigen Felsen und das Beet, in dem der wilde Rhabarber wuchs. »Siehst du das?«, fragte er. »Und schau mal da drüben.« Ich schob die Finger durch seine Gürtelschlaufen und presste mich an seinen Rücken. Unsere Schafe liefen in alle Richtungen auseinander. Die Sonne leuchtete wie eine müde Kerze durch die Bäume.
Damals sah ich die Aussicht zum ersten Mal. Erfuhr zum ersten Mal, was es heißt, so hoch oben zu sein, dass die Vögel unter einem fliegen. Meine Augen tränten, und die Luft kam mir ganz dünn vor. Ich wagte es, die Arme auszustrecken, und fast hätte mich der Wind gepackt wie eine Plastiktüte. Unter einem Himmel, der wie eine Schieferplatte über mir lag, starrte ich hinunter auf alles - die Felder und Wiesen, die Nadelwälder, die Hecken, unsere schmale kleine Straße mit der Ausweichstelle, die gewaltige Eiche, den Kirchturm, die Bussarde, die Schatten, wo Stechginster wuchs und Farn, die Wälder, die im Mai voller blauer Glockenblumen sein würden, die Straße, die sich in der Ferne nach Lampeter hinaufschlängelte, das Kambrische Gebirge und die ferne Verheißung des Meeres. Unser Hof sah winzig aus mit seinem Spielzeugtraktor und dem Bilderbuchrauch des Schornsteins. Der Wind zauste die Grasbüschel. Und hinter mir ragte Tor-y-gwynt in die Höhe.
Tor-y-gwynt. Ort des Windes.
»Na, was sagst du?«, rief mein Großvater.
Sie fehlte mir. Ich wollte sie hier haben. Habe ich geweint? Nein. Aber ein tief in mir vergrabener Schmerz entfaltete sich an jenem Nachmittag auf dem Bergkamm wie ein Banner, blähte sich im kräftigen walisischen Wind, peitschte knatternd auf sich selbst ein, zog mich mit sich und wehte wie eine Trauerfahne über den Hügeln, auf denen die Schafe grasten.

»Es gibt da ein paar Dinge, die du wissen solltest, Evie.«
Wir hatten uns in die verfallene Schäferhütte verkrochen, mein Großvater und ich. In dem muffig riechenden Dämmerlicht kramte er Kuchen und eine Thermosflasche mit süßem Tee hervor, und wir kauten eine Weile und sahen zu, wie der Wind draußen durch das Gras ging.
Ich blickte ihn an. »Was denn?«
Erste Regel, sagte er: Geh allein nie weiter als bis zum Rhabarberbeet, und nach Einbruch der Dunkelheit hast du in den Bergen überhaupt nichts verloren. Als ich fragte, warum, schüttelte er bloß den Kopf. »In der Nacht können hier alle möglichen Gefahren lauern.« (wird fortgesetzt)

Artikel vom 01.08.2005