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Nervenkrieg in London
nach den Todesschüssen

Atmosphäre von Furcht und Unsicherheit in der Stadt

Von Jörg Berendsmeier
London (dpa). In London liegen die Nerven endgültig blank. Nach den tödlichen Selbstmordanschlägen vom 7. Juli, den gescheiterten Bombenattentaten zwei Wochen später und nun noch den gezielten Todesschüssen der Polizei auf einen Unschuldigen leben die Menschen in der Millionenmetropole in ständiger Angst.

Sonntagszeitungen beschrieben die Atmosphäre zutreffend als »gespannt und unwirklich«, von »Nervenkrieg« und »Belagerungszustand« war die Rede. Die Leute beschleicht das unheimliche Gefühl, in Bussen und U-Bahnen jederzeit Zielscheibe von Terroristen sein zu können. Und jetzt bekommen sie den Eindruck, vielleicht irrtümlich auch noch ins Fadenkreuz von Polizisten zu geraten.
»Dies ist ein Krieg gegen Pendler«, schreibt Frank Ferano, der Augenzeuge war, als Mitglieder der Antiterroreinheit SO19 von Scotland Yard den brasilianischen Elektriker Jean Charles de Menezes (27) im U-Bahnhof Stockwell mit fünf gezielten Kopfschüssen vor den Augen geschockter Fahrgäste niederstreckten. Tausende Emails besorgter Londoner gingen beim Rundfunksender BBC ein. Viele zeigen, dass es mit der Gelassenheit, für die die Menschen dieser Stadt bislang bekannt waren, nicht mehr weit her ist.
»Ich weiß, als jemand, der sein ganzes Leben in London verbracht hat, sollte ich nicht so sprechen, aber mir graut es«, schreibt Steve Mitchell (32). »Ich kann diese Atmosphäre von Furcht und Unsicherheit, die jetzt in den Adern meiner Stadt pulsiert, einfach nicht fassen.« Die Attentäter hätten ihr Ziel erreicht, London dauerhaft in Angst und Schrecken zu versetzen.
Alle Appelle von Premierminister Tony Blair und Scotland Yard-Chef Ian Blair, den normalen Alltag weiterzuleben, fruchten bei vielen nicht mehr. »Die Zeit der unbewaffneten Bobbys ist vorbei«, beschrieb die »Mail On Sunday« die Sicherheitssituation. Stattdessen sind nach den Anschlägen nun hunderte mit Pistolen bewaffnete Polizisten in Zivil in den U-Bahnen und auf Bahnhöfen mit der Maßgabe unterwegs, Selbstmordattentäter nicht kampfunfähig zu machen, sondern notfalls sofort zu töten. Das Risiko, dabei einen Unschuldigen zu treffen, ist nicht auszuschließen, wie die tödlichen Schüsse vom Freitag zeigen.
Die Verantwortlichen stehen in der Kritik, doch haben sie ihre Gründe, ihre Strategie der harten Hand zu verteidigen. Der frühere Polizeichef Lord Stevens schrieb in der Sonntagszeitung »News Of The World«: »Wir leben in einer Zeit des Bösen und befinden uns im Krieg mit einem Feind von unaussprechlicher Brutalität.« Deshalb bestehe für ihn trotz aller Risiken kein Zweifel: »Es gibt nur einen sicheren Weg, um einen Selbstmordattentäter an der Tat zu hindern - zerstöre sein Gehirn auf der Stelle.«
Scotland-Yard-Chef Blair ist ebenfalls der Meinung, dass es zum Kopfschuss keine Alternative gebe, wenn der Verdacht besteht, dass ein Verdächtiger einen Sprengstoffgürtel trägt und zünden könnte.
Auch der ansonsten für seine sehr liberalen Ansichten bekannte Londoner Bürgermeister Ken Livingston verteidigte den Ansatz der gezielten Todesschüsse bei Terroristen auch im Fall des unschuldig ums Leben gekommenen Mannes: »Die Polizei handelte im Glauben, das Notwendige zum Schutz der Menschenleben zu unternehmen. Diese Tragödie hat ein weiteres Opfer auf die Totenliste gesetzt, für die die Terroristen die Verantwortung tragen.«
Besorgte Bürger und Menschenrechtler forderten dennoch eine Überprüfung der Polizeipolitik. Alles bestimmend aber bleibt für viele die Angst, die sie derzeit stets und ständig auf allen Wegen durch London begleitet. »Dies sind für zahlreiche Menschen die aufreibendsten Tage ihres Lebens, und es gibt keine Garantie, dass die Furcht nicht noch zunimmt«, hieß es in einem Kommentar der Sonntagszeitung »The Observer« unter dem Hinweis darauf, dass jetzt auch »unsere Beschützer Blut an den Händen haben«.
Die irrtümliche Tötung des unschuldigen Brasilianers hat auch Brasilien empört und geschockt. »Wir sind schockiert und perplex«, hieß es in einer Botschaft von Außenminister Celso Amorim. Seine Regierung warte auf die Erklärungen der britischen Behörden »zu den Umständen, die zu dieser Tragödie geführt haben«.
Die Familie des Opfers reagierte mit Trauer und großer Empörung. Charles sei in der U-Bahnstation nur deshalb gerannt, »weil er doch nur nicht zu spät zur Arbeit kommen wollte«, versicherte die 21-jährige Cousine Vivian Menezes, die sich mit Jean Charles und anderen Familienangehörigen eine Wohnung in London teilte.

Artikel vom 25.07.2005