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Konzertbühne Bahnhofsviertel

»listen Bi« - Ein außergewöhnliches Klangspektakel in der Innenstadt

Von Uta Jostwerner (Text)
und Bernhard Pierel (Fotos)
Bielefeld (WB). Samstag auf dem Jahnplatz: Schlag zwölf unterbricht ein energischer Gongschlag das geschäftige Treiben an Bielefelds Hauptverkehrsader. Klänge vom Saxophon mischen sich mit sirenenartigem Gesang und dem Lärm der vorbeirauschenden Fahrzeuge. Die Menschen stutzen, bleiben stehen, staunen und schmunzeln. Eine Art Klangskulptur hat sie für einen Moment aus dem gewohnten Tritt gebracht.

Weniger überrascht sind die Zuhörer abends im Neuen Bahnhofsviertel. Sie sind bewusst gekommen, dem »concerto grosso generatioso« ihr Gehör zu schenken, einer gemischten Musikertruppe, die Menschen unterschiedlichster Generationen und Musikstile vereint.
Ihr spiritus rector ist Willem Schulz, der unter dem Titel »listen BI« eine Klangcollage für die bunte Truppe komponiert hat. Schulz steht auf einem für alle Beteiligten gut sichtbaren Schwimmmeisterpodest und hebt den rechten Arm: Einsatz für Saxophonistin Natalia Stuphorn, die auf dem Dach des Parkhauses stehend das abenteuerliche Konzert eröffnet.
Auf der Treppe, die zum Europa-Platz führt, sowie auf den umliegenden Balkonen, Balustraden und Dächern von Cinemaxx, Elixia und Nachtarena warten Stuphorns Mit- und Gegenspieler auf ihre Einsätze: Ein Psalmen-Chor, eine quirlige Kids-Band, ein Sound-Poet, eine Sopranistin, ein Streicher-Duo, zwei junge Autoren, ein finnisch-deutsches Folk-Jazz-Duo, ein DJ, eine Hardcore-Jugendband, eine Monochord-Spielerin, ein Untertonsänger und Interpreten elektronisch-experimenteller Improvisationen.
In der kommenden Stunde werden sie nacheinander und gemeinsam ein außergewöhnliches Klangspektakel entfachen und den Platz mit einem neuartigen Konzert beleben. Im Zentrum steht das Sich-Anhören - daher der Titel »listen« (hören oder höre). Dann folgt der von Willem Schulz koordinierte Versuch, die Musik aneinander zu fügen, sich überlappen zu lassen und ineinander zu verweben. Mit zuckenden Händen und weiten Armbewegungen modelliert Schulz neue Klangbilder -Êund Aussagen.
Denn nicht Willkür herrscht hier, sondern bewusst herbeigeführte Stimmungen verweisen auf Themen mit städtespezifischem und politischem Hintergrund. Die schlafende Stadt etwaÊ- war da nicht so etwas wie ein Schnarchen zu vernehmen? Die hektische Stadt, bei der alle wie aufgescheucht durcheinander spielen, singen und reden. Die von Faschismus, Krieg und Terrorismus bedrohte Stadt, bei der es Elektroniker und Hardcore-Band so krachen lassen, dass die Schallwellen physisch spürbar werden.
Konkreter und aktueller denn je kommt die Bedrohung in den gesprochenen Textpassagen zum Ausdruck: »In jedem öffentlichen Mülleimer tickt eine Bombe, gespickt mit Nägeln«, rezitiert eine Sprecherin und ein Rapper der Kidsband skandiert in Anspielung auf die Nazi-Zeit: »Pass auf, dass so etwas nie wieder passiert!«
Liebe, Tod, Einsamkeit -Ê es gab kaum ein Thema, das nicht in experimenteller, aber doch akustisch verständlicher Sprache angeschnitten wurde. Und so lässt sich bilanzieren, dass »listen Bi« eine aufregende, gehaltvolle und unterhaltsame Konzertstunde bescherte, die im klangbombastischen Finale vergleichbar einer romantischen Sinfonie endete.
Willem Schulz, der sich einmal mehr als versierter Arrangeur und Klangmaler empfahl, konnte zudem demonstrieren, dass das Genre Neue Musik lebendig Bezüge zum aktuellen Leben aufweist und keineswegs etwas Abgehobenes und Schrilles darstellt, das lediglich von einigen wenigen intellektuellen Überfliegern im dunklen Kämmerlein praktiziert und verstanden wird. -ÊMehr davon!

Artikel vom 11.07.2005