30.06.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Leitartikel
Schröder rückt's raus

»Mangelnde Fähigkeit zu handeln«


Von Reinhard Brockmann
Verkehrte Welt, rasante Zeiten:
Der Kanzler verweigert sich selbst das Vertrauen, seine schärfsten innerparteilichen Kritiker legen die innigsten Treueschwüre ab und die Abgeordneten, die demnächst für ihn wahlkämpfen, sollen morgen namentlich ihre Unterstützung versagen.
Der Bundespräsident, noch nie war einer parteiunabhängiger, registriert allein in seinem ersten Amtsjahr mehr politische Höhen und Tiefen der Republik als jeder seiner acht Vorgänger. Morgen, am ersten Jahrestag von Horst Köhlers Amtsantritt, steht er vor der politischsten aller Entscheidungen: Tricksen und täuschen oder verantwortbares Handeln einer sich selbst absetzenden Regierung?
Das Bundesverfassungsgericht zum Dritten muss das Vorgehen von Kanzler und Präsident überprüfen - anhand von Kriterien, die über Artikel 68 des Grundgesetzes hinausgehen und die es selbst gesetzt hat.
Als mit dem früheren Chef des Internationalen Währungsfonds 2004 erstmals ein Nicht-Politiker an die Staatsspitze rückte, war nicht absehbar, dass ein Kurzschluss im Kanzleramt ihn wider Willen in die Rolle des Königsmachers zwingt. Der, der Schröders »Agenda 2010« lobte, auf der Beliebtheitsskala schnell Platz eins belegte und in Afrika wie in der Föderalismusfrage seine eigentlichen Betätigungsfelder sieht, ist ein Überzeugungs-Präsident. Er will Deutschland voranbringen und muss jetzt konkreter werden, als ihm lieb sein mag.
Schröder hat gestern eine Begründung für den immer noch unverständlichen Entschluss vom 22. Mai nachgeliefert: »Mangelnde Handlungsfähigkeit seiner Regierung« soll er im eigentlich doch vertraulichen Ministergespräch beklagt haben. Morgen früh um 8 Uhr wird er vor der SPD-Bundestagsfraktion womöglich noch ein weiteres Info-Häppchen spendieren, damit seine Partei um 11 Uhr genügend Misstrauenspunkte liefert, mit denen Köhler und Karlsruhe geködert werden können.
Dabei wird des Kanzlers Handlungsfähigkeit kein Deut besser sein als heute - selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, dass die derzeit irgendwo bei 27 Prozent rangierende SPD im September eine Neuauflage von Rot-Grün (mit Stimmen von PDS/WASG?) hinbekäme.
Wenn es also eine ernsthafte Begründung dafür geben soll, weshalb eine Bundesregierung sich außer Stande sieht, konstruktive Politik zu machen, dann geht es um das Verhältnis vom Bund zu den sehr stark mitspracheberechtigten Ländern.
Man kann es »Blockade« nennen oder auch »starke Länderkammer«, wie es sie in vielen (Vereinigten) Staaten dieser Welt gibt. Auch Köhler hat sich zum Ziel gesetzt, die gegenseitige Beeinflussung von Bund und Ländern zu entflechten. Aber nicht das Grundgesetz. Denn: Zur Heilung der von Franz Müntefering und Edmund Stoiber verpatzten Föderalismusreform darf die Vertrauensfrage auf keinen Fall missbraucht werden. Auch Reform-Freund Köhler darf nicht in diese verlockende Falle tappen.

Artikel vom 30.06.2005