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»In der Breite
sind wir Spitze«

Schach-Großmeister Christopher Lutz

Herford (WB). Erst war es das Spiel der Könige, dann der geistigen Elite. Dann wurde der Spleen hoffähig. Mit Schach-Großmeister Christopher Lutz (34) sprach Oliver Kreth über diese Klischees, Popstars und seine Philosophie.

Emanuel Lasker, der erste deutscher Weltmeister (1894 - 1921), sagte über das Schachspiel: Im Leben werden Partien nie so unstrittig gewonnen wie im Spiel; das Spiel gibt uns Genugtuungen, die das Leben versagt. Sind das Sätze, mit denen Sie sich identifizieren können?Christopher Lutz: Sicher. Beim Schach gibt es keinen Glücksfaktor, es ist eine Sache der eigenen Leistung. Der Bessere gewinnt. Ein gutes Gefühl.

Erfüllen Schachspieler auch heute noch das Klischee des schrulligen Einzelgängers?Lutz: Die Psychoanalyse spricht von einer engen, abgeschlossenen Welt. Und sicherlich genügen Spitzenspieler normalen Standards nicht. Aber die meisten Schachspieler wissen schon, was außerhalb des Bretts los ist.

Macht Schach nicht doch ein bisschen einsam?Lutz: Während der Partie sicherlich. Beim Training gibt es Gesellschaft. Aber ein Mannschaftssport ist es gewiss nicht.

Lasker und Co. waren nicht nur brillant am Brett, sondern teilweise auch Philosophen und Geistesgröße auf anderen Gebieten. Eine ausgestorbene Spezies?Lutz: Heute muss man sich auf seinen Sport konzentrieren. Es ist wettkampfbetonter geworden. Der künstlerisch, kulturelle Aspekt wurde in den Hintergrund gedrängt. Ein ausschweifender Lebensstil wie Anfang des 20. Jahrhunderts ist nicht mehr möglich.

Warum muss man Schach dem Sport zuordnenLutz: Es ist Wettkampf, eine durchaus körperliche Anstrengung, bis zu sieben Stunden die Konzentration zu halten, in elf Tagen bis zu zehn Partien zu spielen. Zu meiner Wettkampfvorbereitung gehören deshalb auch Laufen und Tennisspielen.

Was gehört außerdem noch zu Ihrem Training?Lutz: Ich suche mir Partien, vor allem im Internet, zusammen und studiere sie. Vor allem die Eröffnungsphase. Vor einem Turnier beschäftige ich mich intensiv mit den Gegnern, plane Strategien. Das kostet mich zwischen sechs bis acht Stunden täglich.

Deutsche haben Schach lange dominiert. Wie sieht es heute aus?Lutz: In der Breite sind wir die führende Nation, nur nicht in der Spitze. Da sind Russen und Ukrainer die Stärksten. 1999 und 2003 sind wir bei der EM Dritter geworden, 2000 bei der Schacholympiade Zweiter hinter Russland. Das war der bedeutendste Mannschaftserfolg.

Kann man von Ihrem Sport leben?Lutz: Man muss seinen Lebensunterhalt schon in verschiedenen Bereiche verdienen. Ich spiele Turniere, bekomme Preis- und Antrittsgelder, sitze in der Bundesliga für Köln-Porz am Brett. Im Schach darf man außerdem für mehrere Vereine und in anderen Ländern spielen. Weiterhin bin ich schriftstellerisch und als Trainer tätig.

Könnte, um Schach in Deutschland wieder populärer zu machen, ein »Popstar« wie Alexandra Kosteniuk helfen, die sich sehr aggressiv vermarktet?Lutz: Jeder Sport lebt von seinen Stars. Diese Rolle hat international lange Garri Kasparow ausgefüllt. Er war eine schwierige Person, er hat fasziniert. Jetzt ist eine Leere entstanden. Alexandra geht das sicher sehr professionell an, aber Leistung und Marketing müssen in einem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen.

Es gibt die Schachwunderkinder. Wie früh haben Sie mit dem königlichen Spiel begonnen?Lutz: Mit neun. Mich haben 1978/1979 die Begegnungen Karpow/Kortschnoi fasziniert. Dann bin ich natürlich auch von Dr. Robert Hübner, der nah am WM-Titel war, inspiriert worden.

Was fasziniert Sie an Ihrem Beruf, der wohl auch ein bisschen Berufung ist?Lutz: Ich bin ein Autodidakt. Komplizierte Dinge, die schwer zu durchschauen sind, haben mich immer fasziniert. Ich will verstehen, wie Sachen funktionieren. Mich beschäftigt der mathematisch, wissenschaftliche Ansatz deshalb mehr als der kulturell, philosophische oder der sportlich, wettkämpferische Ansatz.

Artikel vom 02.07.2005