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Europa in dramatischer Doppelkrise

Kritik am Kurs Großbritanniens

Berlin (Reuters). Die Europäische Union ist mit der Verfassungskrise und der gescheiterten Einigung bei den Finanzen in tiefe Ungewissheit gestürzt.Schüssel: »Europa vor der Grundsatzentscheidung«.
Das Scheitern des EU-Gipfels in der Nacht zum Samstag hat Europa nicht bloß in eine tiefe Doppelkrise beschert, es dokumentiert auch das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Visionen für die künftige Union.
Österreichs Bundeskanzler Wolfgang Schüssel sagte mit Blick auf Großbritannien: »Sie wollen ein marktwirtschaftlich orientiertes Europa, einen größeren Markt, keine vertiefte Union.« Auf der anderen Seite treten Frankreich und Deutschland für ein Sozial- und Wirtschaftsmodell und für eine Vertiefung der EU ein. Jedenfalls läutet das Scheitern des Gipfels Experten zufolge eine Phase der Lähmung ein. Mehr denn je in Frage steht auch die Aufnahme weiterer Staaten in die EU.
Die Verhandlungen in Brüssel waren nach 15 Stunden gescheitert, als über das Budget der Jahre 2007 bis 2013 keine Einigung zu Stande kam. Zuvor hatten sich die EU-Staaten nach der Ablehnung der Verfassung bei Referenden in Frankreich und den Niederlanden eine Denkpause verordnet.
Sichtlich enttäuscht zeigte sich nach dem Gipfel der luxemburgische Regierungschef und amtierende EU-Ratspräsident Jean-Claude Juncker. »Ich befürchte eine lange, schleichende und kaum wahrnehmbare... eine ungleiche und verschwommene Zukunft, die man nicht beschreiben kann.« Neue Impulse für die EU erwarten Experten angesichts der beschädigten Beziehungen zwischen den Staats- und Regierungschefs und des geringen Ansehens der Union in der Bevölkerung erst mit einer neuen Generation von Akteuren - wenn Frankreichs Präsident Jacques Chirac, Bundeskanzler Gerhard Schröder und der britische Premierminister Tony Blair aus ihren Ämtern ausgeschieden sind.
Zahlreiche Staats- und Regierungschefs machten vor allem die Briten für das Scheitern verantwortlich. Großbritannien habe keinerlei Kompromissbereitschaft beim Beitragsrabatt erkennen lassen, sagte Schröder. Schüssel sieht die Gemeinschaft nun vor einer Grundsatzentscheidung. Blair habe klar gemacht, dass die Briten ein anderes Europa wollten. Er gebe aber Schröder darin Recht, dass es in einem solchen, rein wirtschaftsliberalen Modell keinen Grund mehr für Solidarität unter den Ländern gebe. »Wer also so ein Modell will, verabschiedet sich eigentlich vom europäischen Sozial- und Wirtschaftsmodell, das uns gut getan hat, das die Bürger wollen und das uns stark gemacht hat.« Seite 2: KommentarThemen der Zeit: Hintergründe

Artikel vom 20.06.2005