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Verfassung: EU will Denkpause

Finanzstreit ungelöst: Schröder sieht im Briten-Rabatt das Hauptproblem

Berlin/Brüssel (dpa). Die Europäische Union legt eine Denkpause zur gefährdeten EU-Verfassung ein und geht in den Verteilungskampf um ihre millardenschweren Finanzen. Nach dem Nein der Franzosen und Niederländer zur Verfassung wollten die Staats- und Regierungschefs intensiv über das weitere Vorgehen nachdenken, sagten Diplomaten beim Brüsseler Krisengipfel gestern.

Auch ein Sondergipfel, wie der französische Staatspräsident Jacques Chirac ihn vorgeschlagen hatte, galt als wahrscheinlich. Bundeskanzler Gerhard Schröder schlug eine Zwischenbilanz zur Verfassung im Frühjahr 2006 vor.
Der EU-Ratspräsident und luxemburgische Regierungschef Jean-Claude Juncker warb bei Großbritannien und den Niederlanden mit Hochdruck für einen Kompromiss zur Finanzplanung für 2007 bis 2013. Frankreich und Deutschland signalisierten Bereitschaft zu Verhandlungen. London wehrt sich gegen ein Einfrieren seines Beitragsrabatts. Den Haag will weniger in die EU-Kasse zahlen.
In der Verfassungsfrage versuchten die Staats- und Regierungschefs, Zeit zu gewinnen. Über die Dauer der Denkpause wurde zunächst noch verhandelt. Offensichtlich soll den EU-Staaten freigestellt bleiben, ob sie den Ratifizierungsprozess fortsetzen oder anhalten. Der niederländische Regierungschef Jan Peter Balkenende plädierte für »eine große nationale und europäische Debatte«. Sein dänischer Amtskollege Anders Fogh Rasmussen forderte eine »Zeit des kollektiven Nachdenkens«. Der britische Premierminister Tony Blair unterstützte die Forderung nach einer Pause. Er hat bereits das britische Referendum auf Eis gelegt.
Blair sagte, die Regierungen in Paris und Den Haag seien nicht Schuld am Scheitern der beiden Volksentscheide. Den zwei Nein-Sagern stehen zehn EU-Staaten - darunter Deutschland - gegenüber, die die Verfassung bereits verabschiedet haben. Chirac sagte, die EU-Verfassung dürfe nicht am Nein der Franzosen scheitern. Die französische Entscheidung vom 29. Mai sei klar und eigenständig. »Aber es ist nicht die Sache eines einzelnen Landes, über das Schicksal eines Vertrags zu befinden, der von 25 ausgehandelt und unterzeichne wurde«, sagte der französische Präsident.
Zu den Aussichten auf eine Einigung zu den EU-Finanzen äußerte sich Bundeskanzler Schröder wie der schwedische Ministerpräsident Göran Persson skeptisch. »Deutschland wünscht eine Einigung. Wir wollen uns bewegen, um eine Einigung zu erreichen«, sagte der Kanzler in Brüssel. »Aber es wird nur möglich sein, etwas hinzubekommen, wenn alle sich zu bewegen bereit sind.«
In einer Regierungserklärung hatte Schröder am Morgen im Bundestag den britischen Rabatt zum EU-Beitrag als »Dreh- und Angelpunkt« für eine Verständigung bezeichnet. Für den seit mehr als 20 Jahren bestehenden Milliarden-Bonus gebe es »keine wirkliche Rechtfertigung mehr«. Juncker schlug vor, den britischen Rabatt auf die Zahlungen in die EU-Kasse von 2007 bis 2013 zwar auf dem Jahres-Niveau von 4,6 Milliarden Euro einzufrieren, aber nicht stärker abzuschmelzen.
Junckers Vorschlag sieht weiter vor, der Landwirtschaft der künftigen EU-Staaten Bulgarien und Rumänien aus dem 2002 fixierten Agrarbudget zu helfen. Blair fordert ein Abschmelzen der EU-Agrarausgaben, von denen Frankreich gut ein Fünftel einstreicht.
Den Umfang aller Ausgaben von 2007 bis 2013 will Juncker bei 870 Milliarden Euro oder 1,06 Prozent der EU-Wirtschaftsleistung festschreiben. Er macht sich für eine Entlastung der von EU-Beiträgen am stärksten belasteten Länder Deutschland, Schweden und der Niederlande stark. Balkenende lehnte die Vorschläge nach einem erneuten Gespräch mit Juncker als unzureichend ab.

Artikel vom 17.06.2005