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Das konnte sie so schnell doch gar nicht wissen! Und stellte trotzdem schon Ansprüche an ihn?
Hansen schleuderte den Umschlag von sich und vergrub das Gesicht zwischen den Armen. Was hatte er nur angerichtet!
»Du sollst zu unserem Herrn und Meister kommen«, raunte eine Stimme an Hansens Ohr.
Er fuhr in die Höhe und stieß mit etwas Hartem zusammen. »Zu Petersen?«, fragte er und bekam gerade noch mit, wie Ross, der Jorkes Brief wieder auf die Tischmitte zurückbefördert hatte, sein Grinsen einstellte und sich das Kinn rieb.
»Welchen Meister denn sonst? Oder gibt es eine neue Meisterin in deinem Leben?«
Wenn er jetzt noch deutlicher wird, dachte Hansen voll Wut, schlage ich ihn nieder. Mit geballten Fäusten wandte er sich ab und marschierte laut klappernd zur Tür.
»Sind Holzpantinen jetzt Mode im Amt?«, stichelte Ross.
Hansen ignorierte seine Frage. Hätte er ihm vielleicht mitteilen sollen, dass seine guten Schuhe auf dem Grund des Flensburger Hafens lagen?

Der Oberbaudirektor stand am mittleren seiner drei Fenster und wartete schon auf Hansen.
»Guten Morgen«, grüßte Hansen ungewohnt förmlich und bemühte sich jetzt darum, nicht allzu laut aufzutreten.
Petersen wandte sich um und musterte ihn mit angespannter Miene. »Das weiß ich noch nicht. Was haben Sie nur angerichtet, Herr Hansen?«
Er war drauf und dran, aus vollem Herzen zuzustimmen, fing sich aber in letzter Sekunde. »Was genau meinen Sie, Herr Petersen?«
»Sie haben eine klare dienstliche Weisung erhalten und sich geweigert, ihr nachzukommen. Ich müsste Sie fristlos entlassen.«
Hansen schlug plötzlich das Herz bis zum Halse. »Ich nehme dienstliche Anweisungen nur von meinem Vorgesetzten entgegen«, stammelte er unbeholfen. »Der Herr Baron hat sich, mit Verlaub gesagt, die letzten Jahre hauptsächlich durch Untätigkeit ausgezeichnet, neben einer Reihe von falschen Entscheidungen. Es wäre auch ein nicht wieder gutzumachender Fehler gewesen, zu dem Zeitpunkt, als sein Brief mich erreichte, die Hallig zu verlassen.«
»Unsinn! Dass Sie sich mit Herrn von Holsten nicht verstehen, ist im ganzen Haus bekannt. Und im Hinblick auf die Arbeit der Kommission sind Sie ihm unterstellt, das wissen Sie genau!«
Ja, das wusste er natürlich. Es war eine plausibel klingende Ausrede gewesen, mit der er gehofft hatte durchzukommen. Hansen schwieg.
Petersen schlug die Hände auf dem Rücken zusammen und begann eine unruhige Wanderung entlang der hohen schmalen Fenster. »Sie haben es mit Ihrer Eigenmächtigkeit geschafft, das Verhältnis zwischen Kommission und Wasserbauamt total zu zerrütten! Ist Ihnen das klar, Hansen?«
»Der Oberdeichgraf findet es angemessen, seine Aversion gegen mich auf das ganze Amt zu übertragen?«, erkundigte sich Hansen überrascht. »Dann möchte ich die Vermutung äußern, dass er es auch ohne mich schaffen würde. Dann bin ich nur ein Vorwand. Vielleicht ist er eifersüchtig auf uns oder sieht seine Tätigkeit nicht ausreichend gewürdigt.«
Petersen fuhr herum. »Sie sind ungewöhnlich offen, Hansen.«
»Das erleichtert den Umgang mit mir«, erklärte Hansen zustimmend.
»Nicht, wenn ich Ihre Fehler ausbügeln muss«, knurrte Petersen und schob den schweren Vorhang des mittleren Fensters beiseite, um es zu öffnen und stumm über den Hafen zu schauen.
Sein Zögern ließ Hansen hoffen.
Schließlich seufzte Petersen schwer und drehte sich wieder um. »Dann lassen Sie mal Ihre Erfolge hören.«
Hansen atmete durch. »Die Langenesser sind einverstanden mit den Halligschutzmaßnahmen!«, verkündete er erleichtert. »Ihr Ratmann Mumme Ipsen hat mir sein Wort gegeben.«
»Die Langenesser sind doch gar nicht in so hohem Maße gefährdet. Im Augenblick interessieren sie uns weniger als Nordmarsch, das es in erster Linie zu schützen gilt! Was haben Sie da erreicht?«
Selbstverständlich kannte Petersen die Karte sehr genau. »Konkretes noch nicht«, gab Hansen kleinlaut zu. »Ipsen hat versprochen, auf die Nordmarscher einzuwirken. Vor allem deren Ratmann zeigt sich widerspenstig. Die Zeit muss für unseren Plan arbeiten.«
Der Oberbaudirektor schnappte förmlich nach Luft. »Solch dürftige Ergebnisse wagen Sie mir als Erfolg zu präsentieren?«, sagte er schließlich. »Diese Leute sollen Urkunden unterzeichnen, mit denen sie Halligland an den Staat abtreten werden! Und Sie erzählen mir, dass irgendwer mit irgendwem ein wenig zu plaudern versprochen hat.«
Hansen schwieg betreten. So formuliert, hörte es sich nach wenig an. Aber es stimmte nicht. Nur auf diese Weise ging es. Den Halligleuten konnte man nicht mit der Tür ins Haus fallen. Sie waren stolz auf ihre Vergangenheit und ließen sich durch keine Obrigkeit überfahren. Man musste sie überzeugen.
»Oder É«, begann Petersen in einem ganz anderen, überaus scharfen Ton, »sollten Sie Ihre gesellschaftlichen Erfolge auf der Hallig meinen? Im ganzen Haus geht herum, dass Sie sich Damenpost von Langeness in Ihre Dienststelle schicken lassen! Das ist ein so unerhörter Vorgang - ein Beispiel dafür ist mir nicht bekannt. Ich werde festzustellen haben, ob Sie allein dafür mit einer Disziplinarstrafe zu rechnen haben!«
Hansen fühlte, wie er zu schwitzen begann. Aber er war außerstande, sich zu verteidigen.
Es klopfte vernehmlich. Petersen verwies Hansen mit einer barschen Geste auf einen Stuhl, der an der Wand zwischen zwei Schränken stand. Ein Armsünderplätzchen. Die Standpauke war immer noch nicht beendet. Resigniert setzte Hansen sich.

Baron von Holsten riss die Tür auf, bevor Petersen geantwortet hatte, und schob mit besonders liebenswürdiger Miene einen elegant gekleideten Herrn ins Zimmer, den Hansen im Amt noch nie gesehen hatte.
»Darf ich die Herren einander vorstellen?«, schnarrte der Oberdeichgraf. »Herr Petersen, Leiter des Wasserbauamtes in Husum. Herr Aksel Andresen aus Tondern, ein großer Gönner und Finanzier auf der Insel Amrum.«
»Ich kenne Ihr bewundernswertes Projekt, Herr Andresen«, lobte Petersen überschwänglich und schüttelte ihm ausgiebig die Hand.
Der Kapitalist! Lars Rasmussens Schilderung hatte ihn durchaus neugierig auf diesen Mann gemacht. Hansen drückte sich tiefer in den Stuhl. Zu seinem Glück befand sich der Schreibtisch, um den herum die Herren Platz nahmen, am anderen Ende des Raums.
»Was führt Sie in unser bescheidenes Amt, Herr Andresen?«, erkundigte Petersen sich höflich.
»Mein Interesse für alles, was mit den Inseln und Halligen zu tun hat, bester Oberbaudirektor«, antwortete Andresen mit einer Spur von Herablassung.
»Wir sind im Augenblick in einer Umbruchphase«, umschrieb Petersen Hansens Bericht, »erste Erfolge im Gespräch mit der Halligbevölkerung beginnen sich abzuzeichnen. Und É«
»Wir sind sehr zuversichtlich«, unterbrach der Baron ihn ungehalten, »dass wir schnellstens alle Halligufer unter Deichschutz nehmen können. Bald gehört der Abbruch der Vergangenheit an.«
»Sind Sie auch dieser Meinung, Herr Petersen?«, erkundigte Andresen sich.
»Ja, ja durchaus«, stimmte Petersen halbherzig zu.
»Sehr schön!«, sagte Andresen zufrieden.
Der Kerl wollte irgendetwas. Dies war kein Höflichkeitsbesuch. Hansen witterte geradezu, dass der Kapitalist gleich ein Anliegen vorbringen würde. Und da er hier unter dem Geleitschutz sowohl des Schleswig-Holsteinischen Deichbandes als auch der Preußen hereingesegelt war, beabsichtigte er vermutlich, sich mit allen Mitteln durchzusetzen.
»Haben Sie den neuen Badeort Wittdün schon einmal besichtigt, Herr Petersen?«
»Nein, dort gewesen bin ich noch nicht, leider«, bekannte der Oberbaudirektor, als hätte man ihn bei einer Unterlassung ertappt.
»Macht nichts, obwohl ich durchaus das amtliche Interesse des Wasserbauamtes erwarten würde«, sagte Andresen und warf sich im Besuchersessel nach hinten, dass die Lehne knackte. Mit versonnenem Blick gegen die schadhafte Stuckdecke sprach er weiter. »Ich habe Großes vor. Die Dünenbahn. Schiffsverbindungen außer nach Hamburg auch nach Cuxhaven und Helgoland. Vielleicht sogar ein Zeppelinlandeplatz. Die Buchungen der Gäste aus den gesellschaftlich besseren Kreisen lassen sich ausgezeichnet an, alle Zimmer in den guten Hotels sind auf längere Zeit belegt. Wir müssen neue Unterkünfte bauen, auch einfache, für Wanderer und Naturliebhaber. Und Erholungsheime für Kinder. Es wird nicht mehr lange dauern, bis mein Wittdün Wyk auf Föhr den Rang abgelaufen hat. Und Westerland wird Wittdün nie das Wasser reichen können. Wittdün ist attraktiv. Lebhaft. Modern.«
»Sicher«, stimmte Petersen wortkarg zu.
»Eine der Attraktionen für die Badegäste ist der Leuchtturm von Amrum. Noch mehr als die Vogelkoje«, sagte Andresen und kehrte mit überraschender Plötzlichkeit in die Gegenwart des Dienstzimmers zurück. Er richtete seine blassblauen, etwas vorstehenden Augen auf Petersen, der sich unbehaglich rührte. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 22.06.2005