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Leitartikel
Das richtige TV-Duell

Politische Feinkost für jedermann


Von Reinhard Brockmann
Kopf an Kopf gehen Peer Steinbrück und Jürgen Rüttgers in den Schlussspurt zur Landtagswahl am Sonntag. Obwohl Rot-Grün in Umfragen deutlich unbeliebter ist, darf sich Noch-Ministerpräsident Steinbrück dank Amtsbonus und politischen Geschicks gleichauf mit dem Oppositionsführer wähnen.
Das zweite TV-Duell am Dienstagabend war das erste richtige dieses Wahlkampfs. Am 5. Mai war Rüttgers schwach, aber auch Peter Klöppel und Heiner Bremer hatten seinerzeit als Moderatoren versagt. Jörg Schönenborn und Maybrit Illner zeigten diesmal, wie es geht: nachfragen, nicht locker lassen, Themen anstoßen und ungezügelte Hahnenkämpfe sofort unterbinden.
Beide Kandidaten, ihre Anhänger und selbst die danach noch unentschiedenen Zuschauer dürfen sich ein wenig als Sieger fühlen. Sie alle haben über die übliche Wahlkampfkost hinaus Neues erfahren und an der Spannung teilgehabt. Ein Gewinn für die Demokratie.
Völlig unerheblich ist, dass auch der Autor dieser Zeilen Rüttgers diesmal vorne sah. Entscheidend ist, dass jeder Zuschauer sich selbst eine Meinung bilden konnte. Viele dürften auch ein im Kopf vorhandenes Bild um wichtige Details ergänzt haben.
Und: Der schwarz-gelbe Vorsprung im Lande schrumpft, während Union und FDP im Deutschlandtrend Schüppe um Schüppe drauflegen. Das macht die Sache spannend. Das Rennen in NRW ist eben noch nicht entschieden. Wochenlang lagen CDU und FDP zweistellig vor der Konkurrenz. Der Noch-Vorsprung von sieben beziehungsweise fünf Prozentpunkten, je nach Umfrage, spannt nicht nur die Strategen auf die Folter. Schön, dass der Wähler sich wieder als das empfinden darf, was er ist - nämlich der Inhaber einer Stimme, die durch nichts zu ersetzen ist.
Das TV-Duell ist nicht alles. Die Menschen haben Hartz IV und Tsunami-Katastrophe, Exportboom, Schuldenkrise und die Wahl eines deutschen Papstes durchlebt. Alles bestimmt derzeit die Befindlichkeit. Vor allem aber: Deutschland befindet sich im Jahr fünf einer wirtschaftlichen Depression, und rundum legen 24 EU-Staaten höhere Wachstumsraten vor. Selbst die diffuse Befürchtung, bulgarische Billigarbeiter könnten in NRW Arbeitsplätze kosten, ist nicht ohne Einfluss auf die Wahlentscheidung am Sonntag.
Auch die neue Ehrlichkeit beider Kandidaten - »mehr arbeiten fürs gleiche Geld« - ist noch nicht wirklich in den Köpfen angekommen. Rüttgers und CDU-Chefin Angela Merkel sprechen die Folgen der schleichenden Staatspleite deutlicher an. Steinbrück und Harald Schartau bestätigen immerhin den schmerzhaften Trend zur Lohnkürzung dann, wenn sie danach gefragt werden.
Klang Steinbrücks Schlusswort nicht so ähnlich wie: »Wer mich will, muss auch die rot-grüne Kröte schlucken«? Nein, hat er nicht gesagt. Aber der Zuschauer durfte es so verstehen. Das TV-Duell bot eben für jeden etwas.

Artikel vom 19.05.2005