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Bei der Sache mit der
Schere wurde es ganz still
Warum man nicht unbedingt alles mitmachen sollte
Sind Mutproben wirklich Mutproben? Und was ist daran so »toll«? Lest selbst!
Jetzt war Janne an der Reihe. Welch ein blödes Spiel das doch ist, dachte sie. Als sich die Kinder der Nachbarschaft auf der Straße getroffen hatten, hatte Felix, der Größte und Stärkste von ihnen, ein neues Spiel vorgeschlagen. »Wir spielen Mutprobe!«, hatte er gerufen und nicht einmal darauf gewartet, dass die anderen Kinder zustimmten. So war es eigentlich immer. Wenn Felix etwas machen wollte, machten alle mit. Felix war eben der Boss.
Jetzt stand er inmitten der Kinder und machte ein nachdenkliches Gesicht. Mit klapprigen Knien wartete Janne darauf, ihre Aufgabe zu bekommen. Was müsste sie wohl tun?
Jonas hatte bei Herrn Mischke, dem unfreundlichen Nachbarn mit dem großen Hund, Klingelmännchen machen müssen. Obwohl er mächtige Angst vor Hunden hatte, hatte er es dennoch getan. Auf keinen Fall wollte er riskieren, von Felix Angsthase genannt zu werden.
Dann war Luisa an der Reihe gewesen. Felix konnte sie nicht besonders gut leiden und so hatte er sie zu Frau Risses Haus hinüber geschickt. »Siehst Du die Mülltonne mit dem grünen Deckel?«, hatte er gefragt und dabei hämisch gegrinst, »Steck Deinen Kopf hinein und zähle bis zehn!« Die anderen hatten gespannt zugeschaut, wie Luisa furchtlos zum Mülleimer marschiert war. Tatsächlich hatte sie den Deckel geöffnet und ihren Kopf hineingehalten. Die Tonne hatte erbärmlich gestunken und am Rand waren kleine weiße Maden heraus gekrochen. Trotzdem hatte Luisa ihre Mutprobe bestanden.
Nun kam Felix zu Janne herüber, die die kleinste und jüngste der Kindergruppe war. Er reichte ihr eine Schere und sagte: »Du gehst zu Frau Risse und schneidest ihre Rosen ab!« Janne schluckte. Sie wusste, wie sehr Frau Risse ihre Rosen liebte. Sie hegte und pflegte sie und sprach sogar mit ihnen, damit sie besser wuchsen. »Los, Janne! Oder bist Du ein Feigling?«, fragte Felix, grinste böse und drückte Janne die Schere in die Hand.
Nun waren alle Augen auf sie gerichtet. Ein Feigling wollte sie wirklich nicht sein, aber hatte sie genug Mut, um Frau Risses Rosen zu köpfen?
Langsam ging sie zum Vorgarten ihrer Nachbarin und öffnete die Schere. Die anderen Kinder hielten den Atem an. Jannes Knie zitterten schlimmer als je zuvor, und es war so still, dass sie ihr vor Aufregung laut pochendes Herz hören konnte.
Sie holte tief Luft. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen. Sie drehte sich zur grünen Mülltonne um, öffnete den Deckel und warf Felix' Schere hinein.
»Wenn Du so mutig bist, dann kannst Du jetzt Deine Schere wieder aus der Tonne fischen und Frau Risses Rosen selber abschneiden!«, sagte Janne mit erhobenem Kopf und marschierte an dem sprachlosen Felix vorbei nach Hause. Irgendwie erwartete sie, dass irgendjemand »Angsthase, Angsthase« hinter ihr herbrüllte, doch es war und blieb einfach nur still.

Artikel vom 28.05.2005